Lexikalische Erdbeeren – Nachschlagen in der Edo-Zeit (1603-1868)

Abb. 1

Der japanische Duden
Wenn wir heute für ein bestimmtes Wort das entsprechende Schriftzeichen nicht oder nicht mehr wissen, dann greifen wir automatisch zu einem Lexikon. Wir schlagen dann, beispielsweise im Kôjien 広辞苑, dem so genannten japanischen „Duden“, nach der Lesung des Wortes ichigo (Erdbeere) nach. Dort finden wir, neben einer botanischen Erklärung, natürlich auch die gesuchten Schriftzeichen. Dabei ist für uns die Sortierung der einzelnen Einträge nach dem Alphabet oder besser gesagt nach der 50-Laute-Ordnung des Japanischen (aiueo, kakikukeko usw.) ganz selbstverständlich – denn wie sollte man sonst noch einen Überblick über die scheinbar unendlich vielen Einträge in einem Lexikon bekommen? (vgl. Abb. 1)

 

Mit welchen Kanji schreibt man noch ’mal ichigo?
Wollte man nun in der Edo-Zeit wissen, mit welchen Schriftzeichen das Wort ichigo geschrieben wurde, dann griff man natürlich ebenfalls zu einem Lexikon. Nur dass dieses Lexikon nicht nach dem für uns so „selbstverständlichen“ Ordnungsprinzip aufgebaut war, sondern einer ganz eigenen Logik folgte. Diese Logik mag uns heute „ungewöhnlich“ erscheinen, wurde in Japan aber noch bis in die 1910–20er Jahre hinein für Nachschlagewerke verwendet. Doch wie sahen diese Lexika nun also aus?

 

Abb. 2

Setsuyôshû
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde in einem Kyôtoer Kloster ein neues Lexikon-Genre entwickelt, das programmatisch den Titel setsuyôshû 節用集 trug. Der Titel im Sinne von „eine Sammlung von Wörtern zur zeitsparenden Benutzung“ deutete bereits auf die Absicht hin, den Nutzer*innen die Suche maßgeblich zu erleichtern. Hierfür wurden bestehende traditionelle Nachschlageverfahren miteinander kombiniert. Bis zum Ende des 16. Jahrhundert wurde dieses Lexikon ausschließlich handschriftlich kopiert, revidiert und erweitert. Erst mit dem 17. Jahrhundert begann dann die massenhafte Produktion durch Spezialverlage in Kyôto, Ôsaka und Edo (heutiges Tôkyô) – den drei Verlagshochburgen der Zeit.

 

Abb. 3

A-i-u oder I-ro-ha?
Ein setsuyôshû ist zunächst grob geordnet nach dem Iroha, einer Anordnung der 47 Silben des Hiragana-Alphabets in Form eines Gedichtes, die in Japan seit der Heian-Zeit (794-1185) in Nachschlagewerken weit verbreitet war. Unter den jeweiligen Silbenrubriken (bu 部) „I“, „Ro“, „Ha“ etc. befinden sich dann so genannte Themenfelder (mon 門) wie „Himmel und Erde“ (tenchi 天地), „Speisen und Kleidung“ (ishoku 衣食), „Pflanzen und Bäume“ (kusaki 草木) etc. zur weiteren Unterteilung (vgl. Abb. 2). Je nach setsuyôshû konnte sich das Spektrum dieser Themenfelder auf bis zu 20 verschiedene Kategorien erstrecken. Wie ermittelte man also die Schreibvarianten für ichigo? Zunächst wurde die Rubrik „I“ aufgeschlagen, dann das Themenfeld „Pflanzen und Bäume“ gesucht und anschließend geschaut, ob und wo ein oder mehrere Kanji mit der entsprechenden Lesung ichigo stehen: in unserem Falle 覆盆子 (vgl. Abb. 3). Da es in den Themenfeldern keine weitere Unterteilung der Worteinträge gab und man folglich die Einträge der Reihe nach durchgehen musste, war hier Geduld gefragt. Zugegeben, aus heutiger Sicht scheint dieses Vorgehen recht archaisch und umständlich. Die damaligen Nutzer jedoch waren mit großer Sicherheit an diese Art des Nachschlagens gewöhnt.

 

Abb. 4

Ist „Erdbeere“ gleich „Erdbeere“?
Konnte man sich denn sicher sein, dass ichigo mit den Zeichen 覆盆子 geschrieben wird? Der Blick in ein anderes setsuyôshû offenbart die Schreibung苺 – also mit einem komplett anderen Kanji, wo zuvor noch drei Schriftzeichen verwendet wurden. Erst im Kleingedruckten findet sich ganz am Ende die zuvor in einem anderen Werk ermittelte Variante (vgl. Abb. 4). D.h. je nachdem welche Quellen die Verfasser*innen dieser Nachschlagewerke zu Rate gezogen hatten, unterschieden sich die vorgeschlagenen Kanji für das entsprechende Wort. Erst in den verschiedenen Neuauflagen dieser Werke wurden dann diese Wortbestände immer weiter revidiert und nivelliert, bis sich eine gewisse Standardisierung der Verschriftlichung abzuzeichnen begann. Ausgefallene Schreibweisen gehörten dann ab einem gewissen Punkt der Vergangenheit an.

 

Abb. 5

Setsuyôshû als Wissensspeicher
Heutzutage kennen wir etwas mehr als 800 verschiedene setsuyôshû-Titel. Über einen Zeitraum von rund 550 Jahren waren setsuyôshû „das“ Referenzwerk für korrektes Schreiben in Japan. Sie dienten als Wissensspeicher für die unterschiedlichsten Nutzer*innen und fungierten gleichzeitig als eine Art Schmelztiegel für die unterschiedlichsten Schreibtraditionen – wie eben auch im Falle des Wortes ichigo. Am Ende eines langen Raffinierungsprozesses bildeten die setsuyôshû die Basis für die Verschriftlichung des modernen Japanischen, wie wir sie aus den modernen Lexika kennen. Auch wenn wir heute ichigo nicht mehr als 覆盆子 schreiben, so sollten wir zumindest doch wissen, dass wir die Reduktion der Fülle an früheren möglichen Schreibvarianten japanischer Begriffe auf ein überschaubares Maß mitunter den Bemühungen von setsuyôshû-Verfasser*innen verdanken.

 

Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Worteinträge nach der 50-Laute-Ordnung im Genkai 言海 (1886). Digitalisat von der Kokkai toshokan.

Abb. 2: Hauptrubrik „I“ mit dem ersten Themenfeld „Himmel und Erde“ (tenchi 天地) im Onna setsuyô(shû) mojibukuro 女節用(集)文字嚢 (1721/1762). Digitalisat von der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Abb. 3: Schreibweise ichigo 覆盆子 im Onna setsuyô(shû) mojibukuro. Digitalisat von der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Abb. 4: Schreibweise ichigo 苺 im Otoko setsuyôshû nyoi hôju taisei 男節用集如意宝珠大成 (1716/1736). Digitalisat von der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Abb. 5: Beispiele diverser setsuyôshû. Quelle: https://www1.gifu-u.ac.jp/~satopy/ogatabons.jpg

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