Japans yôkai und ihre Relevanz für die Gegenwart

In den Seminaren der Kölner Japanologie sind sie immer wieder Thema und auch aus der modernen japanischen Popkultur nicht mehr wegzudenken – yôkai 妖怪, Monster und Wesenheiten aus dem japanischen Volksglauben, deren Erzählungen in Japan eine lange Tradition haben. Der Begriff yôkai, dessen Schriftzeichen für das Sonderbare, Mysteriöse oder Unheimliche stehen, hat seine Wurzeln in China und ist heute der gebräuchliche Oberbegriff für unheimliche Wesen oder auch Phänomene, die damit in Zusammenhang gebracht werden. Selbst wenn die meisten Menschen mit diesem Begriff noch nie bewusst in Kontakt kamen, sind ihnen vermutlich viele im Alltag bereits begegnet, während sie z. B. auf der Jagd nach dem neuesten Pokémon durch die Straßen zogen und dabei vielleicht auf ein kleines Vulpix stießen.

New Year’s Eve Foxfires at the Changing Tree, Ōji – Utagawa Hiroshige

Mit der Erfindung neuer Monster zu Unterhaltungszwecken greifen die Erfinder der Pokémon ein Phänomen auf, das bereits in der Edo-Zeit zu beobachten war, als der Künstler Toriyama Sekien 鳥山 石燕 (1712–1788) 1776 in Form der „illustrierten nächtlichen Parade der 100 Dämonen“ (gazu hyakki yagyô 画図百鬼夜行) sein yôkai-Bestiarium in Anlehnung an die damals aufkommenden Lexika und Enzyklopädien anfertigte und in späteren Bänden mit eigens erfundenen Monstern bereicherte. Wie am Beispiel des Fuchs-Pokémons Vulpix, das mit dem kitsune 狐 von einem der wohl prominentesten japanischen yôkai inspiriert wurde, griffen auch Künstler wie Toriyama Sekien seinerzeit auf den reichen Schatz an Überlieferungen und Legenden zurück, um Japans yôkai eine Gestalt zu verleihen und schließlich weiterzuentwickeln.

Während der Edo-Zeit erfuhren diese nämlich geradezu einen Boom, der unser heutiges Bild von den meisten Gestalten des japanischen Volksglaubens nachhaltig prägte. Indem Autoren, Künstler und Gelehrte, die einen großen Einfluss auf die Vorstellung von der Welt hatten, auf die Darstellungen und Erklärungen in Enzyklopädien und Lexika zugriffen und ihr Wissen, auch über yôkai, in einer zugänglichen Form unter das Volk trugen, verbreiteten sich diese rasant. Bald schon waren sie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken und zierten Spielkarten, Brettspiele, Anhänger oder Nachtlichter und auch auf der Bühne feierten sie ihren großen Auftritt als dämonische Wandelkatzen (bakeneko化け猫) und Totengeister (yûrei 幽霊).

Onoe Kikugoro as the Ghost of Oiwa – Utagawa Kuniyoshi

Die wohl berühmteste Geistergeschichte ist zweifelsohne Tōkaidō Yotsuya Kaidan 東海道四谷怪談, die „Geistergeschichte von Tōkaidō Yotsuya“. Das 1825 uraufgeführte Kabukistück von Tsuruya Nanboku IV 鶴屋 南北 (1755–1829) behandelt das Geschehen um den herrenlosen Samurai Tamiya Iemon und seine Frau Oiwa, die, verraten und durch Gift entstellt, nach ihrem frühzeitigen Tod schließlich als Rachegeist zurückkehrt, um ihre Peiniger zu töten. Zusammen mit dem Tellergeist Okiku aus dem „Telleranwesen von Banchô“ (banchô sarayashiki 番町皿屋敷) und Otsuyu, dem Geist der „Pfingstrosenlampe“ (botan dôrô 牡丹燈籠), zählt Oiwa zu den drei großen Geistern (san-dai-yûrei 三大幽霊) Japans.

The Ghost of Okiku at Sarayashiki – Tsukioka Yoshitoshi

Dass die Geschichten dieser drei Geister noch heute relevant sind, lässt sich in zahlreichen modernen Adaptionen dieser Motive in Medien wie Manga, Anime, Filmen oder Videospielen erkennen. Wer die Erzählungen dieser drei großen yûrei kennt, wird sich zum Beispiel beim Anblick des Brunnens in „Ring“ (ringuリング) oder dessen amerikanischer Variante „The Ring“ an die legendäre Okiku erinnern, die nach ihrem unglücklichen Tod in einem Brunnen fortan das Anwesen und die Lebenden heimsuchte.

Heute haben yôkai ihren Schrecken natürlich größtenteils eingebüßt und nehmen ihren Platz als vielgeliebte Charaktere und Maskottchen (kyara キャラ) ein. Der niedliche kappa 河童 hat zum Beispiel nur noch wenig mit der Kreatur gemein, die in früheren Geschichten in Sümpfen und Flüssen auf Menschen und Pferde lauerte, um ihnen mit dem sogenannten shirikodama 尻子玉 ihren mythischen Sitz der Seele bzw. der Lebenskraft aus dem Anus zu entreißen. Trotzdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass genau diese Ambivalenz im Bild der yôkai stets auch ein wichtiges Merkmal darstellte.

Kappa aus dem „Gazu Hyakki Yagyō“ – Toriyama Sekien

Manch einer mag sich die Frage stellen, warum man sich an Universitäten mit Geistern und Fabelwesen beschäftigt, und tatsächlich wurde dieser Forschungszweig lange Zeit nicht ernstgenommen. Es ist jedoch unumstritten, dass die Beschäftigung mit Mythen und Fabelwesen Aufschluss über die Hintergründe historischer Entwicklungen gibt und dass moderne Werke, die weltweit in großem Umfang rezipiert werden, in ihrer Gesamtheit nur mithilfe der dahinterstehenden Konzepte zu erfassen sind.

Aus diesem Grund beschäftigen wir uns auch in diesem Semester wieder mit den Geistern und Monstern der Edo-Zeit, um mit den Studierenden zu erarbeiten, welchen Platz sie einnahmen, welche historischen und kulturellen Rahmenbedingungen ihre rasante Entwicklung ermöglichten und welche Schlüsse sich daraus über den Stellenwert des Übernatürlichen und auch den Wandel im Umgang mit diesem in der Edo-Zeit ziehen lassen.

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Die Kölner Japanologie stellt sich vor: Teil XIII

Name
Jana Katzenberg

Was wollte ich eigentlich mal werden?
Nach den üblichen Ambitionen in der Dinosaurierforschung schwankte es bei mir zwischen dem Beruf der Lehrerin und dem Wunsch nach einem eigenen Laden – für was genau, das änderte sich eher regelmäßig. Immer im Angebot waren aber Mode und Accessoires, vielleicht ein bisschen Wohndekoration.

Was mache ich jetzt?
Ich arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln in der Abteilung Japanologie. Das bedeutet die Konzeption und Durchführung von Seminaren, die Betreuung von Studierenden sowie Organisatorisches, was eben im Institutsalltag so anfällt. Außerdem arbeite ich an meiner Dissertation zur Verbindung von Mode und Stadt in Tokyo.

Wie bin ich zu diesem Beruf gekommen?
In Vorbereitung meiner Zeit nach dem Abi gab es reichliche Überlegungen zu einem Designstudium und ein paar Praktika im Eventbereich – irgendwas Kreatives sollte es werden. In einer Museumsbuchhandlung fiel mir dann aber ein Bildband zu japanischem (Produkt)Design in die Hände und ich was fasziniert: Was man mit diesen Schriftzeichen typografisch alles anstellen konnte! Und die Menschen in Japan hatten Handys, auf denen man lustige kleine Symbole in seine Texte einfügen konnte? Das wollte ich mir genauer anschauen. Über eine Freundin erfuhr ich vom Studiengang Modernes Japan in Düsseldorf. Dort machte ich meinen Bachelor und Master, lernte das Land und die Sprache durch Studium und Reisen grundlegend kennen und konnte für Haus- und Abschlussarbeiten auch schon einigen der Fragen nachgehen, die sich mir so gestellt hatten. Letztendlich entwickelte sich dann meine Faszination für Mode und Gesellschaft zu dem weiter, was mein aktuelles Dissertationsthema an der Universität zu Köln ist.

Was schätze ich an meinem Beruf?
Die Neugierde, die mich zu Japan geführt hat, besteht bis heute. So macht es mir weiterhin sehr viel Spaß, kulturelle Trends und Entwicklungen zu beobachten. Es fasziniert mich, neue Themen und Zusammenhänge auszugraben, die ich verstehen und in einem wissenschaftlichen Kontext weitergeben möchte. Die Interaktion mit den Mitarbeitenden, Kolleg*innen anderswo, und nicht zuletzt den Studierenden hilft ungemein, Querverbindungen zu finden, immer neue Fragen zu stellen und die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

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Spektakel in der Edo-Zeit

In der Kölner Japanologie beschäftigen wir uns auch mit verschiedenen Themen der Vormoderne, namentlich der Edo-Zeit (1603–1868), in der während der weitgehenden Abschließung des Landes nach außen (sakoku 鎖国) unter der Herrschaft des Tokugawa-Shôgunats vor allem Kultur und Stadtleben eine Blütezeit erlebten.

Ryôgoku-bashi (https://dl.ndl.go.jp/pid/1312588/1/1/)

Ein interessanter Aspekt dieser Zeit sind dabei die sogenannten misemono 見世物, die zum Ende des 17. Jahrhunderts in Edo, dem heutigen Tôkyô, aufkamen. Die Wurzeln dieser Ausstellungen sind allerdings bereits im späten Mittelalter anzusiedeln. Neben den späteren Ballungszentren dieser Spektakel in Asakusa-Okuyama und der Ryôgoku-bashi waren vor allem die Tempelfeste kaichô 開帳, die zwischen drei Tagen und drei Monaten dauerten, ein beliebter Ort für Ausstellungen jeglicher Art.

Ursprünglich wurden während dieser Tempelfeste vornehmlich Reliquien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die teils auch aus anderen Tempeln oder Schreinen des Landes als Leihgabe nach Edo gebracht wurden. Da es sich um Objekte handelte, die sonst im Verborgenen blieben, zogen diese Feste nicht nur Pilger, sondern auch etliche Schaulustige an. Mit leicht auf- und abzubauenden Buden boten die Attraktionen der misemono auch den einfachen Bürgern eine erschwingliche Unterhaltung (selbst die teuren Attraktionen waren um einiges günstiger als z. B. Kabukivorstellungen). Mitunter erinnern sie auch an moderne Jahrmärkte. So fanden dort Ausstellungen von allerlei Sonderbarem statt, aber es wurden dort auch Spielzeug für Kinder oder Süßwaren feilgeboten. Die Hersteller dieser Waren machten mit Tanz- oder Gesangseinlagen auf sich aufmerksam und die Besucher konnten in Schießbuden ihr Glück mit Pfeil und Bogen oder Blasrohren versuchen. Ähnlich wie in westlichen Freakshows wurden außerdem auch ungewöhnliche Menschen oder Tiere zur Schau gestellt, wie zum Beispiel die Dame O-Yome 阿与米, die mit ihren 2,20 m sicher für Aufsehen gesorgt hat, oder ein junger Mann, der das Publikum unterhielt, indem er seine Augäpfel aus den Höhlen treten ließ.

Karakuri-Ningyô (Von I, PHGCOM, CC BY-SA 3.0)

Neben dem offensichtlichen Schaulustigencharakter boten die misemono mit ihren Attraktionen und Ausstellungen den Menschen der Edo-Zeit einen ersten Kontakt mit allerlei Neuerungen und handwerklichen Kunstfertigkeiten, die auch den akademischen Interessen der einfachen Bürger und der Faszination mit der Dokumentation der Natur in Anlehnung an die Wissenschaften der Holländer (rangaku 蘭学) entgegenkamen. Mechanische Schlangen und bewegliche Figuren bewarben bald die Ausstellungen, und Kunstwerke aus Walknochen, Seetang oder Papier wurden mit Licht und Musik gekonnt in Szene gesetzt. Auch die karakuri ningyô 絡繰人形 oder auch iki ningyô 活偶人, mechanische Puppen, wurden häufig als misemono dem begeisterten Publikum zu Unterhaltungs- und Werbezwecken dargeboten.

Fiji-Meerjungfrau (Von Daderot – Own work, Public Domain)

Zusammen mit exotischen Tieren wie Tigern, Stachelschweinen, Kamelen und insbesondere Vögeln aus allen Teilen der Welt (wobei die Betreiber der Buden es nicht immer ganz so genau nahmen und einer der ausgestellten Tiger verdächtig nach einer Hauskatze ausgesehen haben soll) fanden sich dort insbesondere auch (gefälschte) Tierpräparate, wie die noch heute in Sammlerkreisen berühmte Fiji-Meerjungfrau, die aus den Körpern eines Fisches und eines Affen zusammengesetzt oder wie in anderen Exponaten mittels ergänzendem Pappmasché ausgestaltet wurde. Besonders interessante Objekte wie die Kadaver von angespülten oder gestrandeten Walen wurden dabei selbstverständlich auch dem Shôgun präsentiert und eigens in den Garten seiner Residenz transportiert, wo auch Pferdevorführungen für ihn gezeigt wurden.

Zum Ende der Edo-Zeit hin erweiterten zunehmend auch Spukhäuser und Kabinette die Unterhaltungslandschaft, in der insbesondere die Künstler der Kabukibühnen ihre Fähigkeiten im Kulissenbau nutzten, um groteske Ausstellungen unnatürlicher Tode oder geisterhafter Kreaturen in Szene zu setzen, die schnell zu einem großen Publikumsmagnet wurden und Scharen von Touristen auch aus weit entfernten Gebieten in Japan anlockten.

Natürlich dürfen im Rahmen der Edo-misemono auch die zahlreichen aufführenden Künstler nicht ungenannt bleiben, die zum lebhaften Charakter der Stadtkultur beitrugen. Nicht nur die Bettler der Stadt ließen sich allerhand einfallen, um etwas Geld zu verdienen. So gab es ein-Mann-Sumô-Kämpfe und Kabukistücke, bei denen ein Mann mehrere Charaktere spielte, oder es traten Männer auf, die einen Bären darstellten und gegen Geld knurrten und brüllten. Aber es wurden auch Pantomimeaufführungen oder vereinfachten Versionen berühmter Kabukistücke oder Jôrurigesänge gezeigt, so dass den Bürgern allerhand geboten wurde, wodurch auch weniger wohlhabende Menschen an den großen Spektakeln ihrer Zeit teilhaben konnten.

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Bericht aus der Forschungsklasse „Literarisches Übersetzen“

https://www.iudicium.de/katalog/86205-705.htm © iudicium Verlag

Viele Studierende der Japanologie zeigen sich fasziniert von der Aussicht, nach Abschluss des Studiums eine Karriere in der Übersetzung japanischer Literatur zu beginnen. Welche Herausforderungen an dieses Handwerk geknüpft sind und welche arbeitsintensiven Prozesse in eine fertige literarische Übersetzung fließen, ist den meisten dabei jedoch oftmals nicht bewusst und kann eventuell in einer romantisierten Vorstellung dieser sprach- und kulturvermittelnden Tätigkeit untergehen. Gemeinsam mit drei Master-Studierenden widmete sich Stephan Köhn deswegen während der Sommer- und Wintersemester 21/22 in einem zweisemestrigen Lehrprojekt zum Thema „literarisches Übersetzen“ der Kurzgeschichte einer Überlebenden des Atombombenangriffs auf Hiroshima am 06. August 1945. Am Beispiel von Ôta Yôkos 大田洋子 „Flussufer“ (Kawara 河原) sollten so die Arbeitsprozesse und Techniken auf dem Weg zu einer guten literarischen Übersetzung aus dem Japanischen zusammen mit den Problemen und Herausforderungen, die sich dabei stellen, identifiziert und vermittelt werden. Als eine der Studierenden, die an dem Projekt mitgewirkt haben, hat Marie-Christine Dreßen uns einen Einblick in die Arbeitsabläufe auf dem Weg zur Veröffentlichung der Kurzgeschichte gewährt.

Frau Dreßen, als eine von drei Studierenden haben Sie gemeinsam mit Prof. Köhn die Übersetzung erstellt. Wie gestaltete sich der Prozess aus Ihrer Sicht?

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Frau Dreßen: Für uns als Studierende war es das erste Mal, dass wir uns im Rahmen einer Übersetzung mit einem längeren Text wie dieser Kurzgeschichte auseinandergesetzt haben. Für die alle zwei Wochen stattfindenden virtuellen Treffen wurde jeweils eine Seite vorbereitet und übersetzt, wobei wir Satz für Satz vorgingen, was eigentlich erstmal ganz einfach klingt. Allerdings traten bereits da die ersten Schwierigkeiten für uns auf, weil wir möglichst genau übersetzen wollten und uns Fragen widmen mussten wie der Einhaltung von Satzgrenzen oder der Beachtung von Kommata sowie Haupt- und Nebensätzen, die sich teilweise nur schwer adäquat ins Deutsche übertragen ließen. Das Identifizieren der richtigen deutschen Wörter für die Übersetzung gestaltete sich allerdings tatsächlich als die größte Herausforderung für uns und wurde von den Teilnehmenden als besonders schwierig empfunden. In den Besprechungen kam es dabei immer zu sehr langen Diskussionen, warum z. B. ein gewisses Adjektiv für geeigneter als ein anderes gehalten wurde, sodass wir immer sehr lange am Text saßen.

Welche Hürden und Probleme haben sich Ihnen ganz konkret bei den Übersetzungsprozessen gestellt?

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Frau Dreßen: Ôta Yôko hat eine sehr graphische, mitunter morbide Ausdrucksweise und schreckt nicht davor zurück, Dinge detailreich zu beschreiben, wohingegen sie anderes komplett auslässt und Leerstellen setzt, die für die Lesenden nur durch Einstreuungen abzuleiten sind. Für die Übersetzung haben wir uns hier auch Gedanken gemacht, inwieweit die Autorin Dinge möglicherweise bewusst nicht benannt hat, um der Zensur zu entgehen. Wir mussten uns daher genau überlegen, wie wir mit ihrer teils sehr eigenen Wortwahl umgehen, ob wir diese übernehmen oder auf eine sinngemäße Übersetzung zurückgreifen, die für die Leser und Leserinnen verständlicher ist. Das erforderte eine sehr intensive Beschäftigung mit dem Text auf sprachlicher Ebene und das genaue Hinterfragen, was bestimmte Begriffe oder Satzstellungen vermitteln sollen und warum diese so und nicht anders von der Autorin gewählt wurden. Da es sich um keinen zeitgenössischen Text handelt, finden sich darin natürlich auch viele sprachliche Bilder, die heute nicht mehr gebräuchlich sind und mit denen die Lesenden deswegen nicht vertraut sind. Auch auf dieser Ebene mussten wir uns also in die historische Situation zurückversetzen. Die Protagonistin spricht zudem zum Beispiel sehr höflich, die Männer der Geschichte wiederum ganz anders, was zu dieser Zeit durchaus normal war, denn in den 1940-er Jahren hat man selbstverständlich anders gesprochen, als man es heute tut. Diese Sprachformen ließen sich jedoch nicht ins Deutsche übernehmen und so mussten wir überlegen, ob wir die eher gestelzt klingende Ausdrucksweise der Protagonistin übernehmen wollen oder die Bedeutung übertragen und das, was sie damit ausdrücken wollte, auf andere Weise übersetzen.

Ihre Übersetzung sollte in einer Fachzeitschrift veröffentlicht werden. Änderte das etwas an der Herangehensweise an Ihre Arbeit?

Frau Dreßen: Weil es für uns das erste Mal war, kannten wir die genauen Vorgaben für eine Veröffentlichung im Peer Review nicht wirklich, also haben wir uns an Prof. Köhns Ratschlägen orientiert und uns sehr bemüht, von Anfang an möglichst sorgfältig und genau zu arbeiten. Nachdem wir mit unserer wortgenauen Übersetzung der einzelnen Sätze zufrieden waren, gingen wir abschnittsweise wieder zurück, um den Lesefluss zu überprüfen und sicherzustellen, dass die gewählte Übersetzung in der Zusammenschau dann auch Sinn ergibt. Für die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift kam es auf eine wortgetreue Übersetzung an, damit diese den Peer Review auch bestehen würde. Als solches ist der Text jetzt vermutlich etwas anstrengender zu lesen, als er es nach einer weiteren Überarbeitung und Glättung für einen geschmeidigeren Lesefluss in einer einzeln veröffentlichten Geschichte gewesen wäre. Wenn eine wortgetreue Übersetzung nicht möglich war, mussten wir Brücken schlagen und zu Umschreibungen greifen, was jedoch natürlich wieder einen Eingriff in den Text bedeutete. Auch das war letztlich Teil des Entscheidungsprozesses speziell für den Peer Review und die Veröffentlichung.

Welchen Eindruck haben Sie in den zwei Semestern insgesamt von der Literaturübersetzung mitgenommen?

Frau Dreßen: Obwohl es sehr spannend war, sich so lange und intensiv mit einem Text auseinanderzusetzen und damit zu arbeiten, war die Übersetzung sehr anstrengend und erforderte viel Feinarbeit. Am Ende waren wir froh, es geschafft zu haben, auch weil wir gemerkt haben, wie viel Arbeit die Veröffentlichung mit sich bringt. Insgesamt habe ich dadurch jetzt einen größeren Respekt für Übersetzende aus dem Japanischen. Diese Arbeit muss einem liegen und verlangt eine große Detailverliebtheit. Auch als Muttersprachler:innen gerieten wir mitunter an unsere Grenzen und mussten häufig den Duden oder andere Wörterbücher konsultieren. Mitunter dachten wir stundenlang darüber nach, ob wir nun dieses oder jenes Wort verwenden sollten. Selbst wenn uns aus Japanologensicht an manchen Stellen, beispielsweise bei einer Kombination aus Adjektiven, die Bedeutung klar war, stellte sich immer noch die Frage, wie diese adäquat ins Deutsche zu übertragen war, was sich als die eigentliche Schwierigkeit bei der Übersetzung herausstellte. In der Gruppe kam es dabei manchmal schon beinahe zu Streitigkeiten, weil gewisse Dinge von jedem anders verstanden wurden. Nicht nur im Japanischen, sondern auch im Deutschen hatten wir mitunter ein anderes Verständnis von gewissen Formulierungen und erkannten hier auch regionale Unterschiede, sodass es selbst unter uns Muttersprachler:innen zu Verständigungsschwierigkeiten im Deutschen kam. Es ist sehr wichtig, sich sowohl in die Ausgangs- als auch die Zielsprache hineinzudenken, um bei der Übersetzung auch die Intention des Originaltextes zu transportieren und dabei trotzdem leserfreundlich zu schreiben. Bei all den kleinteiligen Entscheidungen über die Wortwahl ist es außerdem gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten, wie bestimmte Wörter an anderer Stelle übersetzt wurden.

Vielen Dank, Frau Dreßen, für das Gespräch!

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Diversität und Inklusion in Japan

Vom 22. bis 26. Mai fand an der Universität zu Köln die neunte Diversity-Woche unter dem Motto „Du machst den Unterschied“ statt. Sie sensibilisierte mit einer Vielzahl an Veranstaltungen und Angeboten zu Themen wie Antidiskriminierung, Bildungsgerechtigkeit, Inklusion, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Gleichstellung für Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Inklusion. Diesen Anlass nutzen wir gerne, um einmal nachzusehen, wie es derzeit eigentlich um die Diversität und Inklusion in Japan bestellt ist.

Die an preußische Militäruniformen angelehnte Gakuran (Gaku = Schule, ran = alter Begriff für westliche Kleidung)

 Gakuran-Uniform
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Nach wie vor wird Japan als ein sehr homogenes Land wahrgenommen, das eng mit seinen Traditionen verknüpft ist. Auch die Schuluniformen, die vielen aus Anime und Manga bekannt sein dürften, sind Teil dieses Bildes vom einheitlichen Japan. Die Ende des 19. Jahrhunderts eingeführten Uniformen haben sich im Laufe der Zeit natürlich der aktuellen Mode angepasst, doch waren sie lange klar in Ausführungen mit Hosen für Männer und Röcken für Frauen getrennt. Seit einigen Jahren geht jedoch neben praktischen Aspekten insbesondere auch im Hinblick auf Diversität und persönliche Freiheiten der Trend nunmehr hin zu Genderless-Uniformen in verschiedenen Konzeptionen. Zwar sind Hosen für Mädchen insbesondere in kälteren Regionen Japans bereits seit vielen Jahren an einigen Schulen erlaubt, doch werden die Schnitte mittlerweile immer öfter nicht mehr für Jungen und Mädchen ausgewiesen, sondern als Modelle I und II oder A, B, C usw. gekennzeichnet. Nachdem bei der Wahl einer nicht dem biologischen Geschlecht entsprechenden Uniform die Furcht vor einem Quasi-Coming-Out groß war, sollen neue Regelungen an immer mehr Schulen nun eine größere Selbstbestimmung für alle ermöglichen. Genderless-Uniformen, beispielsweise in Kombination mit einem Blazer anstelle der geläufigen Gakuran- oder Sailor-Varianten nehmen nicht nur Rücksicht auf die LGBTQ+-Community, sondern stärken manchen Stimmen zufolge sogar das Gemeinschaftsgefühl, da sich die unterschiedlichen Ausführungen der Uniformen deutlich ähnlicher sehen.

Sailor-Uniform
© Benutzer:
Masami.H.M / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0

Nicht nur im Hinblick auf z. B. Transgenderpersonen werden die neuen Uniformen zumeist positiv aufgenommen und insbesondere die freie Gestaltung des Outfits mit größeren Kombinationsmöglichkeiten, die die Geschlechterstereotypen weiter aufbrechen, kommt bei den Schüler*innen gut an. Dem Uniformhersteller Kankô zufolge können sich im Jahr 2023 Mädchen bereits an über 3.000 Schulen in Japan auch für Hosen entscheiden, wobei der Zuwachs von Schulen, die auf mehr Genderneutralität bedacht sind, in den vergangenen Jahren stetig anstieg. Grundsätzlich können auch Jungen die Rockvariante wählen, allerdings wird dies meist nicht explizit beworben und unter Umständen sind hierfür noch gesonderte Absprachen mit der Schule notwendig. Für mehr Genderneutralität, die zudem eine mögliche Stigmatisierung umgehen soll, sorgen darüber hinaus an einigen Schulen weniger körperbetonte Oberteile und neu eingeführte Culottes, die von allen Geschlechtern getragen werden können.

Bild von Veronika Andrews auf Pixabay

Der Trend zu mehr Diversität und gendersensibler Kleidung beschränkt sich hierbei jedoch nicht nur auf die Schulen. Auch in manchen Kindergärten werden bereits die Kleiderordnung gelockert oder genderneutrale Variationen eingesetzt und selbst in Tôkyôs Disneyland und DisneySea werden seit April dieses Jahres geschlechtsneutrale Uniformen in unterschiedlichen Ausführungen für mehr Gleichberechtigung, Diversität und Bewegungsfreiheit genutzt. Auch die Bestimmungen zu Makeup und Haarstyling gelten nun nicht mehr geschlechterspezifisch, sondern gleichermaßen für alle Angestellten.

So erfreulich diese Entwicklung auch ist, so darf dennoch nicht vergessen werden, dass Japan der einzige G7-Staat ist, der die gleichgeschlechtliche Ehe noch immer nicht gestattet und bislang auch kein Gesetz gegen die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten vorzuweisen hatte. Am 16.06.2023 passierte nun nach mehrmonatiger Debatte das Gesetz zur Förderung des Verständnisses für LGBT das japanische Oberhaus. Interessenverbände weisen jedoch darauf hin, dass insbesondere der auf Druck der Opposition aufgenommene Zusatz zur Rücksichtnahme darauf, dass alle Bürger sorgenfrei leben können (全ての国民が安心して生活できるよう留意する), kritisch zu sehen ist.

Foto: „Statue of Lady Justice with Judge gavel and flag of Japan“ von Marco Verch via ccnull.de – Bildquelle, CC-BY 2.0

Es stehe zu befürchten, dass damit den Rechten der Mehrheit größeres Gewicht verliehen werde als denen der Minderheiten und dass diese dadurch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden könnten. Zudem geht das Gesetz auch nicht auf die gleichgeschlechtliche Ehe ein, die nach wie vor keine rechtliche Anerkennung findet. Einige gerichtliche Instanzen haben diesen Zustand zwar bereits als verfassungswidrig eingestuft, doch ist eine abschließende Einigung noch nicht in Sicht.

Um gleichgeschlechtliche Paare zu unterstützen und ihnen gewisse eheähnliche Vorteile zu verschaffen, etwa Partner im Krankenhaus als Familienmitglieder besuchen zu dürfen oder gemeinsame Wohnungen anzumieten, bieten verschiedene Bezirke z. B. in Tôkyô seit einiger Zeit zumindest bereits eingetragene Partnerschaften an und seit Juni dieses Jahres gibt es im Tôkyôter Bezirk Setagaya auch eine Entschädigungszahlung für Menschen, deren Partner unter Ausübung von angeordneten Notfallmaßnahmen zu Schaden kamen.

Ainu © Benutzer: Torbenbrinker / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0

Ryûkyû-Tanz © Savannah Rivka / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0

Japans Probleme bestehen allerdings nicht nur im Umgang mit der LGBTQ+-Community, sondern Diversität und Inklusion sind nach wie vor Bereiche, in denen sich Defizite erkennen lassen. Konkret zeigt sich dies im Umgang mit der Beschäftigung älterer Menschen oder ausländischer Arbeitnehmer*innen, der noch immer geringen Zahl von Frauen in Führungspositionen sowohl in der Wissenschaft als auch in Unternehmen oder der Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen wie den Ainu, der indigenen Bevölkerung der Ryûkyû-Inseln (Okinawa) oder den sogenannten burakumin, die geschichtlich bedingt mit sozialer Ausgrenzung zu kämpfen haben. Japan hat in Sachen Diversität also sicherlich noch einen weiten Weg vor sich und es bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringt.

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