Das japanische Toten- oder Allerseelenfest

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Wer die japanische Twitch- und YouTube-Landschaft verfolgt, dem ist vielleicht aufgefallen, dass gerade jetzt im Sommer vermehrt gruseliger Content dort zu finden ist. Auch das für den japanischen Sommer typische Zirpen der Zikaden oder ein anstehendes Feuerwerk gibt in manch einem Anime oder Videospiel bereits einen Ausblick auf das Thema, das einen hier erwartet – denn anders als im Westen, gehen in Japan die Geister im Sommer umher.

Bereits seit dem Jahr 606 soll das sogenannte O-bon-Fest お盆, das Toten- oder Allerseelenfest, in Japan gefeiert werden. Damals noch nach dem Mondkalender am 15. Tag des siebten Monats, wird es heute je nach Region zu unterschiedlichen Zeiten, teilweise auch mehrfach, gefeiert und entsprechend Juli-, August- oder altes Bon (shichigatsubon 七月盆, hachigatsubon 八月盆 oder kyûbon 旧盆) genannt. Im Grunde handelt es sich bei O-bon um ein buddhistisches Totenfest, das sich vermutlich mit Traditionen und Glaubensvorstellungen, die bereits vor dessen Einführung bestanden hatten, vermischt hat. Insbesondere der Glaube, dass die Seelen der Verstorbenen aus dem Jenseits ano yo あの世 in das Diesseits kono yo この世zurückkehren und die berühmtem Bon-Tänze (bon odori 盆踊り) lassen sich nämlich nur schwerlich durch den Buddhismus erklären und sind in Indien, China oder Korea nicht zu finden.

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Die buddhistischen Ursprünge des Fests selbst werden zumeist durch eine Legende um den Mönch Mokuren 目蓮 begründet. Als dieser nämlich seine Mutter in einer Vision in der Hölle der hungrigen Geister gakidô 餓鬼道 erblickte, soll er von Buddha Shakamuni zu ihrer Rettung angewiesen worden sein, am 15. Tag des siebten Monats Speisen für die verstorbenen Ahnen zuzubereiten und sie den Mönchen zu geben, wenn sie aus ihrem dreimonatigen Rückzug zurückkehrten, auf dass sie zur Tröstung der gequälten Seelen die Urabon’e-Zeremonie 盂蘭盆会 durchführen. Aus Freude über ihre Rettung soll Mokuren dann getanzt und so auch die Bon-Tänze ins Leben gerufen haben.

Obwohl O-bon besonders intensiv von Familien begangen wird, in denen es im vergangenen Jahr einen Trauerfall gegeben hat, gilt es ganz allgemein als ein Familienfest und jedes Jahr sind die Reisewellen der in die Heimat Zurückkehrenden um die Zeit vom 13. bis 16. August in den Nachrichten zu verfolgen. Denn obwohl es kein nationaler Feiertag ist, schließen einige Firmen an diesen Tagen und stellen ihre Angestellten frei, damit sie in die Heimat fahren können, um das Fest gemeinsam mit der Familie zu begehen und sich um die Gräber der Verstorbenen zu kümmern.

I, Katorisi, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Wie bereits erwähnt, gehen verschiedenen O-bon-Sitten auf traditionelles japanisches Brauchtum zurück und ranken sich insbesondere um die Reise der Seelen in die diesseitige Welt. Um ihnen diese Reise zu erleichtern, stellen viele japanische Familien ein „Seelenpferd” shôryô uma 精霊馬 auf, auf dem die verstorbenen Angehörigen möglichst schnell in das Diesseits reiten sollen. Für die Rückreise, die sie gemächlich und mit Geschenken beladen antreten sollen, wird ihnen mit dem shôryô ushi 精霊牛 dann ein Lastenrind zur Verfügung gestellt. Repräsentiert werden die beiden durch eine mit Holzstäbchen gespickte Gurke und Aubergine. Damit die Geister der Ahnen auf ihrer Reise nicht vom Weg abkommen, werden traditionell zudem mit Einbruch der Dunkelheit Laternen oder Feuer an den Hauseingängen entzündet, ein mukaebi 迎え火, um sie willkommen zu heißen, und ein okuribi 送り火, um sie wieder zu verabschieden. Ein ganz besonderes Beispiel eines solchen Verabschiedungsfeuers im großen Stil ist das Gozan no Okuribi (Geleitfeuer der fünf Berge 五山送り火) oder auch Daimonji-Fest 大文字 in Kyôto, dessen Feuer als Schriftzeichen und Symbole auf den Hängen der umliegenden Berge entzündet werden und einen unglaublichen Anblick bieten.

佐野宇久井, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Obwohl in der Zeit des Bon-Festes die Geister wandeln, ist es als Familienfest anders als zum Beispiel Halloween nun nicht unbedingt ein Fest mit besonders hohem Gruselfaktor. Dennoch besteht dem Volksglauben zufolge natürlich die Gefahr, dass auch Rachegeister (onryô 怨霊) oder Geister, die keine Familie haben, die sich um ihre Bewirtung und Erlösung kümmert (muenbotoke 無縁仏), die Reise in die Welt der Lebenden antreten und dort für Unheil sorgen könnten. Als eine der Maßnahmen zu ihrer Besänftigung sollen sich daher die humoristischen und heiteren Bon-Kyôgen-Stücke 盆狂言 entwickelt haben, die um das Bon-Fest zu ihrer Unterhaltung aufgeführt wurden. Davon inspiriert fanden auch die suzumi shibai 涼み芝居, die „kühlenden Aufführungen“, mit allerlei Geschichten um Geister, Spuk und Horror ihren Einzug in das Repertoire der Kabukitheater und -schauspieler, damit sie mit ihren meisterhaften Darstellungen und Erzählkünsten den Zuschauenden eine Gänsehaut bereiten und sie so die Hitze und Schwüle des Sommers einen Augenblick vergessen lassen konnten. Ganz im Sinne dieser Stücke werden daher noch heute die heißen Sommermonate um die O-bon-Zeit zum Anlass genommen, sich einen Gruselspaß zu erlauben und ein Geisterhaus (obake yashiki お化け屋敷) aufzusuchen, zu einer Mutprobe an einen Ort aufzubrechen, an dem es spuken soll, oder eben die besagten Inhalte im Fernsehen und auf Streamingdiensten anzusehen, um sich einen kalten Schauer über den Rücken laufen zu lassen und so für etwas innere Abkühlung zu sorgen.

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Building the Nation: Stadtplanung in der japanischen Moderne (3)

Ground Zero Hiroshima – wie eine Atombombe das Stadtbild veränderte

Autorinnen: Melanie Kania und Çılga Merten

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Hunderte von Städten weltweit durch Bomben und Gefechte zerstört. Keine Stadt traf es jedoch so verheerend wie Hiroshima, auf das am 6. August 1945 die erste Atombombe abgeworfen wurde. Die Explosion und das daraus resultierende Feuer vernichteten nahezu jedes Gebäude der Stadt und forderten zehntausende Menschenleben. Die medizinische Versorgung brach vollständig zusammen und Krankheit sowie Verletzungen waren allgegenwärtig. Dennoch begannen die Überlebenden rasch mit dem Wiederaufbau der Stadt.

Wurden zunächst nur provisorische Notunterkünfte errichtet, sahen die Stadtverwaltung und Architekten die Situation als eine Chance, die Stadt von Grund auf neu zu gestalten und wieder aufzubauen. Schon wenige Jahre nach der Zerstörung lag der Fokus der Planung nicht mehr nur auf der Wiederherstellung der Stadt, sondern auch auf der Wahrung der Erinnerung an den Abwurf der Atombombe und letztendlich der Etablierung des Bildes als Stadt des Friedens.

Hierzu wurde ein Architekturwettbewerb ausgelobt, den 1949 der Architekt Tange Kenzô 丹下健三 (1913-2005) gewann. Die Stadtverwaltung hatte genaue Vorstellungen, wie die Stadt aussehen sollte, und machte daher verschiedene Vorgaben – auch was das Budget und verschiedene Gebäude wie eine Friedenshalle und eine Konferenzhalle anbelangte. Tange hatte schon zuvor an den Wiederaufbauplänen der Stadt mitgewirkt und demnach auch entsprechende Kenntnisse dieser Erwartungen. Er bezog die gesamte Stadt in seine Überlegungen ein und legte einen Entwurf vor, der viele Parks, Denkmäler und touristische Anlagen beinhaltete. Der von ihm entwickelte Plan, das Peace Park Project, wird auch als „Tange-Plan“ bezeichnet. Das Gebiet für Friedensdenkmäler und -bauten wurde bei der Umsetzung von Tanges Plänen jedoch deutlich reduziert. Folglich wurde nur ein Teil des Plans tatsächlich umgesetzt, sodass heutzutage die meisten Friedensobjekte im Stadtteil Nakajima zu finden sind.

Das zentrale Element des Projekts, welches auch umgesetzt wurde, war die Errichtung des Hiroshima Peace Memorial Parks oder auch Friedensgedenkparks. Er befindet sich überwiegend nahe dem Epizentrum der Explosion in der Mitte der Stadt auf einer Insel umgeben von einem Fluss. Im Park befinden sich zahlreiche Denkmäler und Gedenkstätten, die an den Schrecken der Atombombe erinnern und dem Wunsch nach Frieden Ausdruck verleihen sollen. Die Anlage ist so aufgebaut, dass drei architektonische Objekte auf einer Linie aufgereiht den Kern des Parks darstellen: Das Friedensgedenkmuseum, welches vor allem Ausstellungsstücke beinhaltet, die die Folgen der Atombombe vergegenwärtigen, das Kenotaph, ein Friedensdenkmal für die Opfer der Atombombe, und der sogenannte Atombombendom (genbaku dômu 原爆ドーム), der sich auf der anderen Seite des Flusses befindet. Diese Ruine ist eines der wenigen Gebäude, welche nicht vollständig von der Atombombe zerstört wurden. Es wurde 1996 als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt.

Im neuen Stadtbild des ehemaligen Stadtkerns Hiroshimas lassen sich zwei wichtige Arten von architektonischen Bauten feststellen: Zum einen gibt es die historischen Gebäude, allen voran die Atombombenkuppel, die in dem Zustand bewahrt werden, in dem sie nach dem Abwurf der Atombombe aufzufinden waren. Ihre Hauptfunktion ist es, Teile der Stadt zu memorialisieren, sie also wie ein Artefakt einer vergangenen Zeit zur Erinnerung zu nutzen. Zum anderen gibt es die neuen Gebäude und Denkmäler, die zu einem Großteil von Tange entworfen und in der Folge um neue Bauwerke erweitert wurden. Zu diesen zählen das Friedensgedenkmuseum und das Kenotaph. Diese sind ebenfalls darauf ausgerichtet, an die Vergangenheit und vor allem an die Opfer zu erinnern.

Auch wenn die Größe des heutigen Friedensgedenkparks nicht den ambitionierten Plänen Tanges entspricht, gelang es Hiroshima, das neue Bild der Stadt erfolgreich zu festigen. Die Intention der gesamten Neugestaltung inklusive der Parkanlagen und Museen dient noch immer der Erinnerung und ist eine Aufforderung, den Frieden als oberstes Ziel der Menschheit anzusehen.

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Building the Nation: Stadtplanung in der japanischen Moderne (2)

Made in Japan: Der Versuch einer idealen Hauptstadt in der Mandschurei

Autor: Gregor Billing

Im Zuge der raschen gesellschaftlichen Veränderungen der Taishô-Zeit (1912–26) und der Bewältigung des Großen Kantô-Erdbebens (1923) wurde Japan auch auf der internationalen Bühne zunehmend aktiv. Als formaler Teilnehmer am Ersten Weltkrieg war es beispielsweise bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919 Gründungsmitglied des Völkerbundes.

Selbst der damaligen, faktisch kolonialen Herrschaft in Korea und Taiwan zum Trotz wollte sich das japanische Kaiserreich dabei nie als eine Großmacht verstanden wissen, die fremde Regionen ausbeutete. Das starke Bevölkerungswachstum und die zunehmende Industrialisierung in den 1920er-Jahren veranlassten Japan, seinen Einfluss zu vergrößern sowie Rohstoffe benachbarter Regionen zu importieren.

Eines dieser Gebiete war die Mandschurei im Nordosten Chinas, von der zwar nicht das Territorium an sich, sehr wohl aber die wichtigste Eisenbahnlinie bereits 1905 an Japan gefallen war. Die weitläufigen Ebenen waren reich an Kohle und Öl, und darüber hinaus über die Eisenbahnanbindung der Hafenstadt Port Arthur (heute Dalian) hervorragend mit Schiffen aus Japan zu erreichen.

Außerdem war die gesamte Region territorial zerstritten und die Landkarte von konkurrierenden Warlords vernarbt. Dies passte perfekt in die japanische Lesart, nicht als unterdrückende Kolonisatoren, sondern als Frieden stiftende Heilsbringer einer „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ aufzutreten. Nach dem Mandschurei-Zwischenfall von 1931 und dem schließlich 1932 ausgerufenen vermeintlich eigenständigen Staat „Manshûkoku“ 満州国 stiftete Japan die dazu passende Hauptstadt Shinkyô gleich mit.

Anstelle der traditionellen Provinzhauptstadt Mukden (heute Shenyang) fiel die Wahl für das neue Zentrum auf das heutige Changchun einige hundert Kilometer nordöstlich. Diese Stadt war damals nur wenig ausgebaut und bot die einmalige Gelegenheit, eine Hauptstadt am Reißbrett neu zu konzipieren. Mithilfe japanischer Expertise sollte dort „Shinkyô“ 新京 (wörtl. „neue Hauptstadt“) errichtet werden, um Manshûkoku sowohl nach innen als auch nach außen zu repräsentieren.

Das Staatsgebiet war jedoch nur dünn besiedelt. Um die japanische Bevölkerung zu motivieren, umzusiedeln und die weitläufigen Steppen zu bestellen, war es wichtig, ein Gefühl von Moderne und Lebensqualität zu vermitteln. Neben Bauern waren aber auch Arbeiter und Funktionäre willkommen, denn parallel sollte die Industrie und eine funktionierende Staatsverwaltung aufgebaut werden.

Den Regierungsgebäuden in der Hauptstadt kam als prunkvolle, mit Dächern im sogenannten Kaiserkronen-Stil (teikan yôshiki 帝冠様式) bedeckten Symbolbauten eine tragende Rolle in der Stadtplanung zu: Die Symbiose von traditioneller und westlicher Architektur sollte die nationale Identität Japans ausdrücken. Ein zentraler Platz, auf den sechs große Boulevards sternförmig zuliefen, erinnerte zudem an europäische Großstädte der Zeit, mit Parks und Grünanlagen rings umher.

Auch über das Stadtzentrum hinaus wurde mittels Bebauungszonen versucht, lebenswerte Wohnvierteil einzurichten, die ein urbanes Leben im Grünen verwirklichten. Damit hob sich die Gestaltung von den Großstädten in Japan ab, in denen historisch gewachsen oft Industrie und Wohnungen dicht beieinander lagen und für Konflikte durch Lärm und Verschmutzung sorgten.

Schließlich war die Stadt mit ihrer geographisch zentralen Lage hervorragend in die Umgebung von Manshûkoku eingebunden. Die massiv ausgebaute Eisenbahnlinie aus Richtung Port Arthur endete in Shinkyô, und auf dieser Trasse verkehrte nun der Schnellzug „Asia-Express“. Gezogen von einer damals sehr modernen Diesellok, finden sich später einige der technologischen Innovationen in den ersten Shinkansen-Zügen wieder. Darüber hinaus etablierte sich infolge der Neueröffnung des Flughafens Tôkyô-Haneda die zivile Luftfahrt in Manshûkoku mit Shinkyô als Drehkreuz.

Allen Idealvorstellungen zum Trotz offenbarte sich schnell eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis: Das Ziel, eine Million Siedler zum Umzug in die Mandschurei zu bewegen, scheiterte früh. Und obwohl die ersten Regierungs- und Prunkbauten schnell fertig gestellt wurden, blieb die Stadt als Ganzes unvollendet. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde Manshûkoku formal aufgelöst – und damit blieb die Vision von Shinkyô als ideale Hauptstadt im Wesentlichen nur ein Entwurf auf Papier.

Die beteiligten Stadtplaner und Architekten kehrten nach Japan zurück; trotz der unzähligen menschlichen Tragödien beflügelten die nun freien Flächen die stadtplanerischen Phantasien.

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Building the Nation: Stadtplanung in der japanischen Moderne (1)

“The future of the city lies in ruins.” Diese Aussage des Architekten Isozaki Arata 磯崎新 (1931-2022) macht sich das Master-Seminar im Sommersemester 2024 zu eigen, um an drei konkreten Beispielen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Stadtplanung nach einer Zerstörung zu fragen: Tôkyô nach dem Großen Kantô-Erdbeben von 1923, die neue Hauptstadt der Mandschurei, Shinkyô, und Hiroshima nach der Zerstörung durch die Atombombe.

Das Stadtplanungsgesetz von 1919, welches in Teilen bis 1968 in Kraft blieb, setzte den Planungsphantasien von Politikern und Architekten Grenzen. Selbst in der Mandschurei, der vermeintlich freien, verfügbaren Fläche, konnten die hochtrabenden Zukunftsvisionen nicht umgesetzt werden. Denn neben rechtlichen Vorgaben sind finanzielle Spielräume das größte Hindernis bei der visionären Stadtplanung. Dennoch spiegeln die neukonzipierten Städte ein bestimmtes Verständnis, gar einer Vision der Nation wider. Anhand der drei Städte soll im jeweiligen historischen Kontext diese Vision der japanischen Nation herausgearbeitet werden.

A sudden release of energy – Leben und Beben im Tôkyô der Taishô-Zeit

Autor: Gregor Irlenkäuser

Die Taishô-Zeit (1912-1926), im engeren Sinne die Herrschaftszeit des Taishô tennô (1879–1926), im weiteren Sinne allerdings die Zeit zwischen dem Japanisch-Russischen Krieg 1904/05 und dem Mandschurei-Zwischenfall 1931, zeichnet sich durch wesentliche gesellschaftliche Umbrüche aus. Durch stetig steigende Wirtschaftsleistung, auch befeuert vom Ersten Weltkrieg, breitete sich in Japan eine Aufbruchstimmung aus, welche ihren Ausdruck u. a. in einer beschleunigten Urbanisierung fand. Die nach neuen Möglichkeiten und Arbeit suchenden Menschen strömten in die Städte und stellten die Infrastruktur vor neue Herausforderungen. Es galt einerseits die Masse der neu auftretenden und heute nicht mehr aus dem Stadtbild japanischer Großstädte hinwegzudenkenden Büroangestellten und in den Arbeitsmarkt eintretenden Frauen unterzubringen und von ihren Wohnungen zu den Arbeitsplätzen zu befördern. Andererseits verlangte die sich fortentwickelnde Gesellschaft nach neuen Möglichkeiten der Information und Unterhaltung. In hoher Geschwindigkeit entstanden Zeitungen und Zeitschriften, Kino und Radio. Die wachsende Stadtbevölkerung setzte neue kulturelle Impulse und förderte so die Entwicklung einer Massenkultur (taishû bunka 大衆文化).

Im Gegensatz zu dieser modernen Gesellschaft stand die Stadt Tôkyô. Verfügte sie zwar bereits über vereinzelte moderne Stadtteile wie das Einkaufsviertel Ginza und das neu errichtete Büroviertel Marunouchi zwischen dem neuen Hauptbahnhof und dem Kaiserpalast, war doch ein großer Teil der Stadt noch im Zustand wie zur Feudalzeit der Tokugawa (1603–1868). Der damalige Bürgermeister von Tôkyô, GOTÔ Shinpei 後藤新平 (1857–1929), hatte zwar einen 800 Mio. Yen teuren Plan zur Verbesserung der städtischen Lebensbedingungen entworfen, aber mehrere Premierminister verweigerten ihm die Finanzierung.

Am 1.9.1923 kurz vor 12 Uhr mittags bebte die Erde mit einer Stärke von 7,9. Das Große Kantô-Erdbeben und die Folgen forderten nicht nur 140.000 Menschenleben, sondern zerstörten auch große Teile Tôkyôs und Yokohamas. Trotz dieser nationalen Tragödie sahen Modernisierer eine neue Chance gekommen, die Hauptstadt endlich an die Bedingungen der modernen Gesellschaft anzupassen. Gleichzeitig sollte das Stadtbild dem neuen imperialen Selbstverständnis der Nation Ausdruck geben. GOTÔ sah Tôkyô als einen Mikrokosmos von Japan und all seiner Problemen an, so dass eine moderne Neugestaltung der Hauptstadt eine Modernisierung des ganzen Landes nach sich ziehen würde. Allerdings erwies sich der Plan, den GOTÔ schon wenige Tage nach dem Beben vorlegte, als mit Kosten von 4,5 Mrd. Yen finanziell zu ambitioniert. Die Landbevölkerung fürchtete zu Recht wegen des enormen Mittelabflusses das Nachsehen zu haben und die betroffene Stadtbevölkerung war eher an Obdach als an repräsentativen Bauten interessiert. Nach langen Beratungen in Gremien und dem Parlament wurden GOTÔ nur 468 Mio. Yen bereitgestellt. Am Ende konnte er aber auch diese nicht verwerten, denn wegen eines Attentatsversuchs auf den Kronprinzen trat das Kabinett Ende 1923 geschlossen zurück und die politischen Ziele veränderten sich.

Angesichts dieses massiven Zurückschneidens des Budgets, muss die Frage gestellt werden, was überhaupt verwirklicht wurde. Zur Wiederaufbaufeier im März 1930 konnten einige Erfolge verbucht werden. Durch Landanpassungen wurden Straßenbegradigungen und – verbreiterungen sowie der Bau von Brücken und Kanälen möglich. Ein neues Abwassersystem komplettierte die Infrastruktur. Weiterhin floss ein Großteil des genehmigten Geldes in den Aufbau von Schulen. Geringgeschätzt, da als ökonomisch nicht erforderlich angesehen, wurde die Anlage von großen Grünflächen. Jedoch wurden innerhalb von Wohnvierteln kleine Parkanlagen für die Bewohner angelegt. Sie bilden bis heute einen Großteil der Grünflächen in Tôkyô. Ebenfalls wenig Geld floss in die Sozialfürsorge, wo es allerdings mit Bedacht in den benachteiligten Vierteln eingesetzt wurde, damit es den größtmöglichen Effekt erzielen konnte. Aufgrund der Zerstörung des feudalen Handelszentrums rund um die Nihonbashi, wurde 1935 der weltweit größte Fischmarkt Tsukiji fertiggestellt. Er blieb bis 2003 bestehen.

Die Erfahrungen, die Stadtplaner und Architekten beim Wiederaufbau von Tôkyô machen konnten, setzen sie anschließend bei der Planung der neuen Hauptstadt der Mandschurei ein.

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Lehr-Lern-Materialien für Japanisch als Fremdsprache an Schulen in NRW

In Nordrhein-Westfalen können Schüler*innen an neun Gymnasien Japanisch als Abiturfach wählen, seit dem Schuljahr 2023/24 gibt es auch eine Gesamtschule, an der das möglich ist. Meist beginnen die Schüler*innen ab der Oberstufe damit, nur in Düsseldorf können sie Japanisch ab der Sekundarstufe I als dritte Fremdsprache wählen und in der Oberstufe fortführen.

Seit 2018 arbeiten die ersten Absolvent*innen des Kölner Lehramtsstudiengangs für Japanisch als reguläre Lehrkräfte an Schulen. Um die Unterrichtsbedingungen des Fachs besser einschätzen zu können, wurde daher von Januar 2022 bis Juli 2023 an der Universität zu Köln ein Projekt zu den Lehr- und Lernmaterialien durchgeführt. Monika Unkel und ihre Projektpartnerin Junko Majima, deren Gastaufenthalt an der Universität zu Köln durch die Heinrich Hertz-Stiftung gefördert wurde, besuchten zusammen alle nordrhein-westfälischen Schulen mit Japanisch-Grundkursen, um den Unterricht zu beobachten und die Lehrenden und die Schüler*innen zu den Materialien zu befragen.

Zuerst wurden die Lehrkräfte und Referendarinnen (insgesamt 13) interviewt. Die meisten sind mit den Materialien zufrieden und finden, dass sie gut zum Kernlehrplan passen. Das war insofern überraschend, weil einige davon vor dem Lehrplan von 2014 veröffentlicht wurden und nicht immer eine optimale Passung besteht. Manche Lehrkräfte hätten zwar gern zusätzliche Materialien zur Vorbereitung auf das Abitur, aber ein völlig neues Lehrbuch, das dem Lehrplan komplett entspricht, halten sie nicht für nötig. Weil aber in naher Zukunft neue Lehrpläne für die Oberstufe in Kraft treten werden und einige alte Materialien nicht mehr verfügbar sind, sehen manche auch die Notwendigkeit, neue Lehrmaterialien entwickeln.

In einem zweiten Schritt wurde mit einem Fragebogen ermittelt, wie die Schüler*innen ihr Lehrbuch finden und welche Wünsche sie an ein neues Lehrbuch haben. Dabei wurde deutlich, dass eigens für Schüler*innen erstellte Lehrmaterialien die Motivation auch dann verbessern, wenn das Lehrmaterial an sich graphisch und inhaltlich nicht so ansprechend gestaltet ist. Die Schüler*innen finden es wichtiger, dass die Materialien ihre Interessen und Themen berücksichtigen, als dass sie authentische Texte enthalten. Auch das Design ist für sie nicht so entscheidend, aber sie wünschen sich mehrheitlich farbige und abwechslungsreiche Materialien.

Obwohl die Lehrpläne vor allem darauf abzielen, dass die Schüler*innen gute kommunikative Kompetenzen erwerben und sprachliche Mittel wie Grammatik und Wortschatz dabei nur unterstützend sind, finden die Schüler*innen gute Erklärungen zur Grammatik besonders wichtig. Hier spielt sicherlich auch eine Rolle, welchen Stellenwert die Grammatik in dem jeweiligen Unterricht einnimmt. Da Japanisch aber oft die vierte Fremdsprache ist, die die Schüler*innen erlernen, kennen sie auch Lehrbücher oder Vorgehensweisen aus ihrem Unterricht in anderen Fremdsprachen.

Ansätze zur Mehrsprachigkeit, wie sie vom Council of Europe (2020: 30) im Companion Volume zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen formuliert werden, scheinen für die Schüler*innen nicht wichtig zu sein. Das könnte daran liegen, dass die nordrhein-westfälischen Kernlehrpläne (selbst der 2023 erschienene Lehrplan Englisch für die gymnasiale Oberstufe) keine Ausführungen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik oder zu den Synergien beim Sprachenlernen enthalten, sondern sich auf allgemeine Zielbeschreibungen des Fremdsprachenunterrichts wie die Entwicklung individueller Mehrsprachigkeitsprofile beschränken. In Schweizer Lehrplänen hingegen werden die Vorzüge der Mehrsprachigkeitsdidaktik explizit erwähnt.

Insgesamt hat die Untersuchung ergeben, dass sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden mit ihren Materialien sehr zufrieden sind, und es scheint vorerst keine Notwendigkeit zu geben, neue zu entwickeln. Das könnte sich allerdings ändern, wenn die neuen Lehrpläne für Japanisch veröffentlicht werden.

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Schulen mit Grundkurs Japanisch in Nordrhein-Westfalen

Cecilien-Gymnasium in Bielefeld, Cecilien-Gymnasium in Düsseldorf, Landfermann- Gymnasium und Steinbart-Gymnasium in Duisburg, Kaiserin-Theophanu-Schule in Köln, CJD Christophorusschule in Königswinter, Engelbert-Kaempfer-Gymnasium in Lemgo, Gymnasium in den Filder Benden in Moers, Theo-Hespers-Gesamtschule in Mönchengladbach und Anno-Gymnasium in Siegburg.

Daneben gibt es noch eine Reihe von Schulen, die Japanisch als Neigungsfach ab der Jahrgangsstufe 5, als Wahlpflichtfach in der Mittelstufe oder als Arbeitsgemeinschaft anbieten.

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