LRS in Japan – (k)ein Thema?

Die Anfrage kam von einem Hörer des WDR 5-Wissenschaftsmagazins Quarks, und von dort ging die Frage dann weiter an die Kölner Japanologie. Konkret ging es darum, ob es Menschen mit Dyslexie oder Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) auch in Ländern gibt, die nicht das Alphabet als Schrift verwenden (zum Quarks-Beitrag geht es hier). Hintergrund dafür ist, dass Japanisch neben den beiden Silbenalphabeten Hiragana und Katakana ja auch über eine logographische Schrift, die Kanji, verfügt, die nicht nur für einen oder mehrere Laute, sondern auch für eine (oder mehrere) Bedeutung(en) stehen.

Während in Europa Forschungen zu Legasthenie bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts betrieben werden, hat dieses Thema in Japan erst in jüngerer Zeit mehr Aufmerksamkeit erhalten. Das liegt sicherlich daran, dass LRS u. a. auch auf der mangelnden Zuordnung von Lauten zu einem Schriftbild oder umgekehrt beruht, ein Problem, das vor allem in Sprachen stark ausgeprägt ist, bei denen die Lautung und die Orthographie weit voneinander abweichen können. Im Japanischen hingegen ist die Beziehung zwischen der Aussprache der Laute und der Verschriftung mit Kanazeichen relativ stabil. Das ist aber auch ein Grund dafür, dass LRS nicht so schnell auffällt und deswegen lange nicht erforscht wurde (vgl. Ishii 2004, S. 14).

Dennoch kommt LRS auch in Japan vor, wie beispielsweise Beobachtungen aus dem Schulalltag von Lehrenden an einer Mittelschule in Nara zeigen. Genannt werden u. a. Schwierigkeiten beim lauten Vorlesen von Kanji und Hiragana/Katakana sowie beim Lesen und Schreiben von Kanji sowohl in der Erwerbs- als auch in der Sicherungsphase (vgl. Tomiyama u. a. 2017, S. 132).

Ishii 2004, S. 15.

Dass die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben sich tatsächlich nicht nur auf die Kana-Silbenalphabete beziehen, belegt auch eine aktuelle Studie (Sanbai u. a. 2018),  bei der Schüler*innen mit und ohne LRS Aufgaben mit echten oder ausgedachten Kanji sowie Kanjiwörtern vorgelegt bekamen. Sie sollten entscheiden, ob es sich um tatsächlich existierende Zeichen oder Wörter handelt. Bei der Wahl der tatsächlich existierenden Zeichen gab es zwischen der LRS-Gruppe und der Kontrollgruppe keinen signifikanten Unterschied, aber bei nicht existierenden Zeichen, die in ihrer Form wirklich vorkommenden Zeichen ähnelten, lag die Zahl der richtigen Antworten der LRS-Gruppe signifikant unter denen der Kontrollgruppe. Auch bei der Aufgabe zum Kanjiwortschatz schnitt die LRS-Gruppe bei nicht existierenden Wörtern deutlich schlechter ab als die Kontrollgruppe. Die Studie geht davon aus, dass bei LRS Schwächen in der visuellen Analyse dafür verantwortlich sind, dass das orthographische Lexikon schwach entwickelt ist und Wortschatz-informationen so nur unzureichend genutzt werden können (Sanbai u. a. 2018, S. 225). Last, but not least macht diese Studie jedoch deutlich, dass die Leistungen der LRS-Gruppe auch bei Kanji unter denen der Kontrollgruppe liegen.

Neben den Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben der Kanji kommt es aber auch bei den Kanazeichen zu Problemen.

Ishii 2004, S. 15.

Hierunter fallen Verwechslungen ähnlich aussehender Zeichen wie z. B. あund め,
いund こ, れ und わ oder さund ち,
Zeichen, die aufgrund bestimmter Übereinstimmungen auch von Japanisch als Fremdsprache-Lernenden anfangs oft verwechselt werden.

Darüber hinaus werden Zeichen wie や, ゆ, よ, die in bestimmten Kombinationen auch klein geschrieben und dann anders ausgesprochen werden (きや z. B. wird kiya ausgesprochen, きゃ hingegen kya), nicht korrekt erkannt. Das mag auf den ersten Blick kein großer Unterschied sein, kann aber zu echten Bedeutungsverschiebungen wie bei byôin (Krankenhaus) und biyôin (Friseursalon) führen.

Empirische Untersuchungen zu LRS und Dyslexie in Japan basieren allerdings auch heute noch meist auf kleineren Stichproben und sind regional begrenzt.  Entsprechend geringen Umfang haben auch Forschungen für Japanisch als Fremdsprache, auch wenn dieses Feld in den vergangenen Jahren – nicht zuletzt aufgrund der UN-Menschenrechtskonvention Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Umsetzung in den Bildungsinstitutionen – verstärkt ins Blickfeld der Fach-/ Fremdsprachendidaktik gerückt ist. Da die Gründe für LRS unterschiedlich sind, muss jeder einzelne Fall diagnostiziert werden, um individuell zugeschnittene Lösungswege beschreiten zu können. Auf diese Weise kann aber auch ein Lernangebot entwickelt werden, das für alle Lernenden Vorteile bringt, denn jede*r lernt unterschiedlich, und eine Methodenvielfalt und das Angebot unterschiedlicher Lernwege und -materialien führen dazu, dass alle die Chance haben, den für sie passenden Zugang zu finden.

  • Ishii, Kayoko 石井加代子: Yomikaki nomi no gakushû konnan (disurekushia) e no taiôsaku 読み書きのみの学習困難(ディスレクシア)への対応策. In: Kagaku gijutsu dôkô 科学技術動向 (Science & Technology Trends) 12/2004, S. 13–25.
  • Sanbai, Ami 三盃亜美, Uno, Akira 宇野彰, Haruhara, Noriko 春原則子 u. a.: Hattatsusei disurekushia jidô seito no shikakuteki bunseki oyobi moji nyûryoku jisho no hattatsu 発達性ディスレクシア児童生徒の視覚的分析および文字入力辞書の発達. In: Onsei gengo igaku 音声言語医学 59 (2018), S. 218–225.
  • Tomiyama, Atsushi 冨山敦史, Wakamori, Tatsuo 若森達哉, Iwasaki, Chihiro 岩﨑千尋, Ônishi, Takako 大西貴子: Yomikaki shôgai (hattatsusei disurekushia) ni tekishita kyôzai to shidôhô no kaihatsu ni mukete 読み書き障害(発達性ディスレクシア)に適した教材と指導法の開発に向けて. In: Jisedai kyôin yôsei sentâ kenkyû kiyô (Nara kyôiku daigaku) 次世代教員養成センター研究紀要(奈良教育大学)3 (2017), S. 131–137.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Forschung, Japanisch auf Lehramt veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.