Auf Japanisch lesen zu lernen, ist aufgrund des abweichenden Schriftsystems für Lernende eine besonders herausfordernde Aufgabe. Während man beim Lesen in den meisten europäischen Fremdsprachen zumindest auf die lateinischen Buchstaben oder ein zahlenmäßig sehr überschaubares anderes Alphabet zurückgreifen kann und so vor allem die Erkennung von Rechtschreibmustern oder Morphemen im Mittelpunkt steht, muss für das Japanische erst einmal die Grundlage für eine sehr aufwändige Mustererkennung geschaffen werden.
Dekodiert werden müssen zunächst die beiden Silbenschriften Hiragana und Katakana, die jeweils 46 Grundzeichen enthalten und deren Zahl sich durch die Ausstattung mit diakritischen Zeichen (dakuten ゛und handakuten ゜) sowie durch die Kleinschreibung der Silbenzeichen ya や, yu ゆ und yo よ zur Palatisierung des Vokals i (so wird z. B. die Silbe ki き durch die Kombination mit einem nachfolgenden, kleingeschriebenen ya ゃ zur Silbe kya きゃ) bzw. des Silbenzeichens つ zur Verdoppelung eines nachfolgenden Konsonanten auf jeweils etwas mehr als 100 Laute erweitert. Jedes Zeichen hat hier i. d. R. genau einen Lautwert.
Wesentlich aufwändiger gestaltet sich allerdings der Erwerb der aus dem Chinesischen übernommenen Schriftzeichen, der Kanji. 2010 hat die japanische Regierung eine Liste mit 2.136 Zeichen und 4.288 Lesungen vorgelegt, die Jôyô-Kanji-Liste, die als Richtschnur für den Gebrauch in offiziellen Dokumenten dient. Diese Zeichen bestehen im Schnitt aus 10–11 Strichen und haben – im Unterschied zur chinesischen Sprache – meist mehrere Lesungen. Hier zeigt sich deutlich der hohe Anspruch, der an Japanischlernende gestellt wird.
Während Lesen in der Erstsprache erst nach der Erwerb der gesprochenen Sprache beginnt, läuft dies bei der Fremdsprache normalerweise zeitgleich. Wenn man Japanisch – sei es in der Schule, in der Universität oder in der Erwachsenenbildung – zu lernen beginnt, handelt es sich oft um die dritte, vierte oder gar fünfte Fremdsprache. Lernende haben also hier die Möglichkeit, an bereits vorgelernte Sprachen anzuknüpfen.
Bei distanten Sprachen wie dem Japanischen sind diese Anknüpfungspunkte im sprachlichen Bereich allerdings eher gering. Sie beschränken sich auf das Stratum der aus „westlichen“ Sprachen – vor allem aus dem Englischen – übernommenen Lehnwörter (gairaigo). Bei diesen können Lernende zumindest teilweise erschließen, was sie bedeuten. Gairaigo machen allerdings nur etwa gut 10% des japanischen Wortschatzes aus, für die anderen Lexeme sind Ableitungen aus vorgelernten Sprachen (wenn es sich nicht gerade um Chinesisch handelt) nicht möglich.
Dennoch muss auch Japanisch nicht so gelernt werden, als handele es sich um die erste zu erwerbende Fremdsprache, denn (Lese-)Strategien aus anderen (Fremd-)Sprachen lassen sich auch für Japanisch nutzen. So hilft es, sich vor der Lektüre erst einmal einen Überblick zu verschaffen, worum es in dem Text eigentlich geht, und zu dem Thema bereits vorhandenes Vorwissen zu aktivieren. Bei Texten, die mit außersprachlichen Informationen wie Illustrationen oder anderen Abbildungen versehen sind, können diese betrachtet werden. Solche top-down-Strategien werden im Japanischunterricht vor allem im Bereich der Grundstufe oft nicht ausreichend genutzt, weil der Fokus auf der Dekodierung der Schrift liegt und Lernende Wort für Wort den Text durchgehen und zu verstehen versuchen (bottom-up-Vorgehen). Dennoch ist auch hier schon die Nutzung beider Vorgehensweisen möglich. Ebenso ist in den transversalen Kompetenzbereichen Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz die Anknüpfung an vorgelernte (Fremd-) Sprachen möglich.
Weitere Lesestrategien bestehen darin, diejenigen Wörter, die man bereits versteht oder aus dem Kontext erschließen kann, zu markieren und – falls das Lesen innerhalb des Unterrichts erfolgt – mit eine*m/*r Lernpartner*in über das Verstandene zu sprechen. Erst wenn klar ist, dass ein Wort für das Verstehen des Textes zentral ist, es aber nicht aus dem Kontext erschlossen werden kann, sollte der Griff zum Wörterbuch erfolgen. Daneben helfen das Markieren von Schlüsselwörtern, die Gliederung des Textes in Sinnabschnitte und die Vergabe von Überschriften für diese Abschnitte oder ihre Zusammenfassung dabei, die Aussage und Struktur des Textes zu erfassen.
Natürlich ist es auch wichtig, das Lesen zu üben, um eine gewisse Routine darin zu entwickeln. Gerade für Anfänger eignen sich vereinfachte Lektürebücher (graded reader), die das extensive Lesen (tadoku) fördern. Für Japanisch hat die NPO Nihongo tadoku kenkyûkai eine Vielzahl solcher Bücher herausgebracht. Diese stehen z. T. in der Bibliothek des Ostasiatischen Seminars, können aber auch über die Bibliothek des Japanischen Kulturinstituts entliehen werden. Sie sind komplett mit Lesehilfen (furigana) versehen, und zu jedem Text gibt es auch eine Audioausgabe.
Aber auch für fortgeschrittenere Lernende bestehen Möglichkeiten für das extensive Lesen, solange noch nicht die Originaltexte ohne Hilfsmittel rasch rezipiert werden können. So können Pop-up-Wörterbücher wie yomichan, rikaikun oder rikaichamp als Browsererweiterungen installiert und zur Unterstützung des Lesens genutzt werden. Des weiteren bietet die öffentlich-rechtlich organisierte japanische Rundfunkgesellschaft Nippon Hôsô Kyôkai (NHK) neben ihrem Online-Nachrichtenangebot (NHK News) seit 2012 das Portal NHK News Web Easy an, auf dem zwischen dem Originalbeitrag und einem lexikalisch und grammatisch vereinfachten, kürzeren Text zum selben Thema gewählt werden kann. Neben der möglichen Einblendung der furigana kann man sich auch Eigennamen von Personen oder Institutionen farblich auszeichnen lassen, die oft aus schwer zu lesenden und/oder vielgliedrigen Kanjikomposita bestehen. Auch zu diesen Texten gibt es die Möglichkeit, sich eine Audioaufnahme anzuhören.
Unter dem Schlagwort yasashii Nihongo (leichtes Japanisch) gibt es noch viele andere Seiten im Internet, die hier nicht alle genannt werden können. Weitere Hinweise zum Lesen finden sich aber auf der Portalseite Nihongo-e-na.com.