Eine kleine Sensation…

Als Bertolt Brecht nach dem Zweiten Weltkrieg in (Ost-) Berlin sein eigenes Theater unter dem Namen »Berliner Ensemble« gründete, da wurde sein Stück Mutter Courage mit seiner Frau Helene Weigel in der Titelrolle schnell zu einem internationalen Erfolg und zum Markenzeichen des neuen Ensembles. Die Parabel auf Krieg und Geschäft mit dem Planwagen der Courage wurde nicht nur in der DDR, sondern auch in London und Paris zur Sensation.

In diesen Tagen bietet das Berliner Ensemble auch ein umfangreiches Streaming-Angebot an – und diese Woche präsentieren sie einen wirklichen Schatz: Eine Aufnahme der Inszenierung aus dem Jahr 1957 – eine Aufnahme, die den meisten (mich eingeschlossen) völlig unbekannt war.

Überraschend ist, wie – abgesehen von Bild- und Tonqualität an einigen Stellen – frisch die Inszenierung wirkt und wieviel sie darüber erahnen lässt, warum die Inszenierung so sehr zur Legende wurde.

Kategorie: Unbedingt anschauen!

https://www.berliner-ensemble.de/be-on-demand

Gegen den Stream …?

Normalerweise sind die Tickets hart umkämpft – doch dieses Jahr ist alles anders und zumindest 6 der 10 ausgewählten Produktionen, die zum Theatertreffen 2020 nach Berlin eingeladen waren, sind nun immerhin als Video on demand zeitlich begrenzt und somit im heimischen Wohnzimmer verfügbar. Um die großartige Sandra Hüller noch als »Hamlet« in der Regie von Johan Simons zu erleben, muss man sich beeilen …

Spannend ist auch das Rahmenprogramm des virtuellen Theatertreffens, das u.a. eine Diskussion zur Forderung „Stoppt das Streaming“ verspricht.

https://www.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/start.html

La comedia è finita!

Wie gezeichnet wirkt die artifizelle Welt, in die Philipp Stölzl die Protagonist*innen in Ruggero Leoncavallos »Pagliacci« versetzt. Versetzt im wahrsten Sinn des Wortes, denn die Bühne als Setzkasten mit ihren verschiedenen Räumen erlaubt den Nachvollzug paralleler Ereignisse und macht aus den Zuschauer*innen Mitwissende. 2015 feierte die Inszenierung bei den Osterfestspielen Salzburg Premiere, bevor sie an der Semperoper Dresden gezeigt wurde, als zweiter Teil eines Doppelabends. Stölz zeichnete auch für das Bühnenbild verantwortlich und wurde damit von der Zeitschrift Opernwelt zum »Bühnenbildern des Jahres« gekürt. In der hier im Visuellen angelegten Überbetonung des Künstlichen, die die Künstlichkeit des Musiktheaters intermedial potenziert, spiegelt sich die Thematik der Oper wider, denn im Zentrum steht nicht nur eine Geschichte um einen gehörten Ehemann, um Betrug, Leidenschaft, Eifersucht und Rache, sondern auch das Spiel mit dem Spiel im Spiel, das kunst- und lustvoll in Szenen versetzt wird. In der vorgeführten Welt der Schausteller, dem Wechsel zwischen Ver- und Vor-stellung, überlagern sich die Ebenen – und führen in die unausweichliche, finalen Raserei. Und so heißt es am Ende aus dem Mund des rächenden Ehemannes: »La comedia è finita!«
Zu sehen ist die Aufzeichnung online bis 26.4., begleitet von einer Oper-Einführung der Dramaturgin Juliane Schunke.

https://www.semperoper.de/

Heimspiel! Das Deutsche Theater in Berlin im Live-Stream

Das Deutsche Theater in Berlin ist ein besonderes Haus in der deutschsprachigen Theaterlandschaft, denn seit seiner Gründung 1883 hat das Deutsche Theater stets entscheidende Impulse gesetzt. Schon die Initiative 1883 um den heute leider fast vergessenen Adolphe L’Arronge war als ein Aufbruchssignal gedacht – eine Reformbühne von Schauspielerinnen und Schauspielern betrieben, die mehr bieten wollte als das seinerzeit übliche Unterhaltungstheater. (Obgleich wir darüber an anderer Stelle nochmals ausführlicher reden sollten…)

Nun hat sich auch das Deutsche Theater ein digitale Plattform eingerichtet, durch die es im Kontakt mit seinem Publikum stehen möchte. Es zeigt zentrale Inszenierungen, wobei neben neueren Arbeiten auch historische Inszenierungen im Programm sind. Auf einige sei hier besonders verwiesen:

»Die Weber« von Gerhart Hauptmann wurde 1894 im Deutschen Theater zum ersten Mal öffentlich aufgeführt unter der Regie des damaligen Intendanten Otto Brahm. Zu sagen, Wilhelm II. sei »not amused« gewesen, wäre wohl eine drastische Untertreibung – er sagte der »Rinnsteinkunst« (seine Worte) den Kampf an, was wiederum sein eigenes Hoftheater zu einer fast musealen Einrichtung machte… Aber was hat das Stück uns heute noch zu sagen? Michael Thalheimers Inszenierung von 2011 ist heute (15. 4.) und morgen bis 12h zu sehen.

Nächsten Dienstag gibt es die Möglichkeit für eine weitere Begegnung mit dem Regisseur Michael Thalheimer, diesmal mit seiner Inszenierung von Lessings »Emilia Galotti«. Lessings Drama war im 18. Jahrhundert ein Meilenstein in der Entwicklung bürgerlicher Theaterkunst, aber der zentrale Konflikt scheint doch sehr weit weg… Thalheimer fand in seiner Inszenierung aus dem Jahr 2001 eine eindrückliche und in ihrer Ästhetik herausfordernde Antwort.

»Der zerbrochene Krug« von Heinrich von Kleist ist eine der wenigen wirklichen Komödien in deutscher Sprache. Für dieses Stück ist das Deutsche Theater tief in das eigene Archiv eingestiegen und hat einen besonderen Schatz geborgen: Die Inszenierung von Thomas Langhoff aus dem Jahr 1990. Die Premiere am 30. November 1990 fand nur wenige Wochen nach der Herstellung der staatlichen Einheit am 3. Oktober statt. Thomas Langhoff inszenierte die Kleist’sche Komödie als Parabel auf ein politisches System, das im Scheitern ist. Gleichzeitig bietet der Gerichtsrat Walter, der betont, er meine es nur gut, schon wenn er komme, auch keine wirkliche Alternative.

Die Inszenierung wurde schon damals als eine Antwort auf den historischen Moment gelesen – dafür stand nicht nur der Regisseur Thomas Langhoff, der als Intendant das Deutsche Theater in die neue Theaterrealität des wiedervereinigten Berlins führte. (Sein Vater Wolfgang hatte das Deutsche Theater unmittelbar nach Kriegsende geleitet und seine Biographie war auf das Engste mit dem Haus verwoben.) Die Inszenierung zeigt auch die Stärke des Schauspielerensembles des DT jener Zeit – eine seltene Dichte an herausragenden Darstellerinnen und Darstellern – Jörg Gudzuhn als Adam, Gudrun Ritter als Marie, Ulrike Krumgiebel als Eve lassen in dieser Inszenierung erkennen, wieso der Ruhm des Deutschen Theaters immer auch auf seinem Ensemble gründete.

Zu sehen ist die Inszenierung ab dem 23. April 18h.

Das Deutsche Theater im Heimspiel findet sich unter:

https://www.deutschestheater.de/programm/aktuelles/dt-heimspiel/

100% Expert*innen

Das Volk vertritt die Volksvertreter, es nimmt sich die Stimme, die bei der Wahl abgegeben wurde, wieder zurück – so die Grundidee von »Deutschland 2«, einem Live-Reenactment einer Bundestagsdebatte mit Bonner Bürger*innen, das 2002 im Rahmen von »Theater der Welt« stattfand. Seitdem hat das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll (bestehend aus Helgard Haug, Daniel Wentzel und Stefan Kaegi) u.a. Physiker, Rentnerinnen, Müllsammler, Kraftfahrer, Waffenhändler, Politikerinnen, Call-Center-Angestellte und viele andere Experten des Alltags sicht- und hörbar auf die Bühne gebracht, Städte zur Bühne gemacht, die Zuschauer*innen ent- und verführt zu einer Gratwanderung zwischen Fakt und Fiktion.

Das umfangreiche Archiv des Künstlerkollektivs umfasst Trailer, Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehberichte, nun neu aktuell auch Aufzeichnungen vieler Produktionen der vergangenen 18 Jahre. Ein großer Fundus, der auch eine Produktionen wie »Chinchilla Arschloch, waswas« zugänglich macht, ein Abend, der sich mit Tics und Tourette beschäftigt und zum diesjährigen Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde. Die kluge Auseinandersetzung um Konventionen und Erwartungen, dies und jenseits des Theaterraums, kann nun (fast ein wenig zu) bequem im heimischen Wohnzimmer angeschaut werden.

https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/chinchilla-arschloch-was-was

His this thing appeared again tonight? »Hamlet« at the Globe in London

Shakespeares Theaterkarriere war geprägt von Epidemiewellen (und vom politischen Widerstand gegen das Theater), die immer wieder die Schließungen aller Theater verlangten. Die Ansammlung von hunderten bzw. tausend(en) von Menschen auf engstem Raume hat, wie wir dieser Tage lernen, vermutlich zu Recht die Angst vor einer weiteren Ausbreitung von Krankheiten befördert.

Das Globe in London versteht sich heute nicht bloß als ein theatrales Museum des Elisabethanischen Zeitalters, sondern als eine Spielfläche, die es erlaubt sowohl mit den historischen Konventionen zu spielen und zu arbeiten als auch alternative Formen zu erproben. Das Spiel im Tageslicht (»shared light«), das Fehlen von Kulissen, die visuell einen Handlungsort suggerieren, sowie eine Bühnenform, bei der ein eindeutiger Fokus kaum möglich ist, weil das Publikum von drei Seiten um die Szene steht, sind für Betrachter*innen des 21. Jahrhunderts eine Herausforderung.

In diesen Tagen der erzwungenen Theaterschließungen bietet das Globe ausgewählte Produktionen auf ihrem Youtube-Kanal an. Zur Zeit läuft, noch bis zum 18. April »Hamlet«. Schon der Anfang – eine dunkle Schanze im dänischen Elsinore, auf der der Geist des verblichenen Königs erscheint – ist eine Provokation und sehenswert.

https://www.youtube.com/channel/UCwN-jwNNNQN-8sfKG-qg8uA

Die Orestie des Aischylos – ein Wendepunkt im Theater der Bonner Republik

Die Berliner Schaubühne ist ein ‚Kind‘ der 1968er Bewegung: Programmatisch schon der (verschraubte) Titel eines Aufsatzes, den Botho Strauß, langjähriger Dramaturg der Schaubühne und einer der wichtigen Hausautoren, schrieb: »Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken«. Die Inszenierungen der Schaubühne – ab Anfang der 1970er Jahre dominiert durch Peter Stein – berühren daher die großen Fragen der Zeit.

1980 inszeniert Peter Stein die »Orestie« des Aischylos – die einzige erhaltene Trilogie attischer Tragödien – als ein Marathon, der das Publikum aus dem klassischen Theatersaal in das rund der antiken Amphitheater zurückzuholen verspricht. Wichtiger aber noch ist die politische Botschaft seiner Inszenierung: Das Gesetz löst das Prinzip der Rache ab. Eine Einsicht, die man im Kontext der Bonner Republik durchaus als theatralen Nachvollzug jenes Verfassungspatriotismus begreifen kann, mit dem die Phase radikaler Gegenentwürfe die Bonner Republik auch bei sich selbst ankommt. Das Gesetz bedeutet nicht nur Unterdrückung des Einzelnen, sondern auch die Garantie seiner Freiheit.

Die Schaubühne öffnet dieser Tage ihr Archiv und am 8., 9. und 10. April besteht die Möglichkeit, die Inszenierung von Peter Stein noch einmal zu sehen. Wer sich einläßt, der kann die Spuren einer Wiederentdeckung des attischen Polis-Gedanken erleben, der keineswegs museal ist.

https://www.schaubuehne.de/de/seiten/online-spielplan.html

Ein Regentanz im April

Beyoncé hat sich bei ihren Chroreografien bereits bedient, oder sagen wir, sich von ihr inspieren lassen – 1983 gelang Anne Terese De Keersmaeker mit „Rosas danst Rosas“ und ihrer Tanzkompanie Rosas der Durchbruch, seitdem ist sie aus der zeitgenössischen Tanz- und Festivalszene nicht mehr wegzudenken. Die Berliner Festspiele zeigen bis 29. April eine Aufzeichnung ihrer Arbeit „Rain“, eine hypnotisch-betörende Choreografie zwischen Ordnung und Chaos, sowie die filmische Adaption von „Achterland“.

https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/on-demand/rosas-filme.html

The »Black Rider« is back!

Die Inszenierung, die 1990 am Hamburger Thalia Theater Premiere feierte, ist bis heute Kult: Robert Wilson, einer der wichtigsten Repräsentanten des Postdramatischen Theaters, inszeniert ein Musical! Noch dazu eines, das auf der deutschen Oper, dem »Freischütz«, basiert.

William Burroughs hat die Texte verfaßt und Tom Waits die Musik geschrieben. Avantgarde goes Pop. Das Ergebnis ist eine Inszenierung, die das Genre des Musicals, vor allem aber auch das Postdramatische Theater neu verortet hat. Ironie, Witz, eine berückende Bildersprache und eine Musik, die lange nachklingt, prägen die Inszenierung.

Unbedingt anschauen: Heute, 6. April 2020, unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/the-black-rider-2020

Ein erster Überblick: Der digitale Spielplan auf nachtkritik.de

Auf nachtkritik.de wird jeden Tag ein digitaler Spielplan veröffentlicht, der tagesaktuell die digital verfügbaren Aufzeichnungen von Inszenierungen aus ganz Deutschland zusammenträgt. Das Runterscrollen ans Ende dieses Spielplans lohnt sich besonders – hier findet sich eine Auflistung von Angeboten ständig verfügbarer Kulturangebote, von Performances über Tanz über Theaterpodcasts hin zu Webserien.

https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17785:sammlung-corona-theater-online&catid=1767&Itemid=100089