In den Seminaren der Kölner Japanologie sind sie immer wieder Thema und auch aus der modernen japanischen Popkultur nicht mehr wegzudenken – yôkai 妖怪, Monster und Wesenheiten aus dem japanischen Volksglauben, deren Erzählungen in Japan eine lange Tradition haben. Der Begriff yôkai, dessen Schriftzeichen für das Sonderbare, Mysteriöse oder Unheimliche stehen, hat seine Wurzeln in China und ist heute der gebräuchliche Oberbegriff für unheimliche Wesen oder auch Phänomene, die damit in Zusammenhang gebracht werden. Selbst wenn die meisten Menschen mit diesem Begriff noch nie bewusst in Kontakt kamen, sind ihnen vermutlich viele im Alltag bereits begegnet, während sie z. B. auf der Jagd nach dem neuesten Pokémon durch die Straßen zogen und dabei vielleicht auf ein kleines Vulpix stießen.
Mit der Erfindung neuer Monster zu Unterhaltungszwecken greifen die Erfinder der Pokémon ein Phänomen auf, das bereits in der Edo-Zeit zu beobachten war, als der Künstler Toriyama Sekien 鳥山 石燕 (1712–1788) 1776 in Form der „illustrierten nächtlichen Parade der 100 Dämonen“ (gazu hyakki yagyô 画図百鬼夜行) sein yôkai-Bestiarium in Anlehnung an die damals aufkommenden Lexika und Enzyklopädien anfertigte und in späteren Bänden mit eigens erfundenen Monstern bereicherte. Wie am Beispiel des Fuchs-Pokémons Vulpix, das mit dem kitsune 狐 von einem der wohl prominentesten japanischen yôkai inspiriert wurde, griffen auch Künstler wie Toriyama Sekien seinerzeit auf den reichen Schatz an Überlieferungen und Legenden zurück, um Japans yôkai eine Gestalt zu verleihen und schließlich weiterzuentwickeln.
Während der Edo-Zeit erfuhren diese nämlich geradezu einen Boom, der unser heutiges Bild von den meisten Gestalten des japanischen Volksglaubens nachhaltig prägte. Indem Autoren, Künstler und Gelehrte, die einen großen Einfluss auf die Vorstellung von der Welt hatten, auf die Darstellungen und Erklärungen in Enzyklopädien und Lexika zugriffen und ihr Wissen, auch über yôkai, in einer zugänglichen Form unter das Volk trugen, verbreiteten sich diese rasant. Bald schon waren sie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken und zierten Spielkarten, Brettspiele, Anhänger oder Nachtlichter und auch auf der Bühne feierten sie ihren großen Auftritt als dämonische Wandelkatzen (bakeneko化け猫) und Totengeister (yûrei 幽霊).
Die wohl berühmteste Geistergeschichte ist zweifelsohne Tōkaidō Yotsuya Kaidan 東海道四谷怪談, die „Geistergeschichte von Tōkaidō Yotsuya“. Das 1825 uraufgeführte Kabukistück von Tsuruya Nanboku IV 鶴屋 南北 (1755–1829) behandelt das Geschehen um den herrenlosen Samurai Tamiya Iemon und seine Frau Oiwa, die, verraten und durch Gift entstellt, nach ihrem frühzeitigen Tod schließlich als Rachegeist zurückkehrt, um ihre Peiniger zu töten. Zusammen mit dem Tellergeist Okiku aus dem „Telleranwesen von Banchô“ (banchô sarayashiki 番町皿屋敷) und Otsuyu, dem Geist der „Pfingstrosenlampe“ (botan dôrô 牡丹燈籠), zählt Oiwa zu den drei großen Geistern (san-dai-yûrei 三大幽霊) Japans.
Dass die Geschichten dieser drei Geister noch heute relevant sind, lässt sich in zahlreichen modernen Adaptionen dieser Motive in Medien wie Manga, Anime, Filmen oder Videospielen erkennen. Wer die Erzählungen dieser drei großen yûrei kennt, wird sich zum Beispiel beim Anblick des Brunnens in „Ring“ (ringuリング) oder dessen amerikanischer Variante „The Ring“ an die legendäre Okiku erinnern, die nach ihrem unglücklichen Tod in einem Brunnen fortan das Anwesen und die Lebenden heimsuchte.
Heute haben yôkai ihren Schrecken natürlich größtenteils eingebüßt und nehmen ihren Platz als vielgeliebte Charaktere und Maskottchen (kyara キャラ) ein. Der niedliche kappa 河童 hat zum Beispiel nur noch wenig mit der Kreatur gemein, die in früheren Geschichten in Sümpfen und Flüssen auf Menschen und Pferde lauerte, um ihnen mit dem sogenannten shirikodama 尻子玉 ihren mythischen Sitz der Seele bzw. der Lebenskraft aus dem Anus zu entreißen. Trotzdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass genau diese Ambivalenz im Bild der yôkai stets auch ein wichtiges Merkmal darstellte.
Manch einer mag sich die Frage stellen, warum man sich an Universitäten mit Geistern und Fabelwesen beschäftigt, und tatsächlich wurde dieser Forschungszweig lange Zeit nicht ernstgenommen. Es ist jedoch unumstritten, dass die Beschäftigung mit Mythen und Fabelwesen Aufschluss über die Hintergründe historischer Entwicklungen gibt und dass moderne Werke, die weltweit in großem Umfang rezipiert werden, in ihrer Gesamtheit nur mithilfe der dahinterstehenden Konzepte zu erfassen sind.
Aus diesem Grund beschäftigen wir uns auch in diesem Semester wieder mit den Geistern und Monstern der Edo-Zeit, um mit den Studierenden zu erarbeiten, welchen Platz sie einnahmen, welche historischen und kulturellen Rahmenbedingungen ihre rasante Entwicklung ermöglichten und welche Schlüsse sich daraus über den Stellenwert des Übernatürlichen und auch den Wandel im Umgang mit diesem in der Edo-Zeit ziehen lassen.