Die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit in Japan ist seit Jahrzehnten nicht nur ein beliebter Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, sondern auch ein kontinuierlich präsentes Thema in der Öffentlichkeit. Der zunehmende geschichtsrevisionistische Trend der japanischen Regierung entfesselt auf nationaler sowie auch internationaler Ebene regelmäßig kontroverse Debatten, welche in der Forschung aufgegriffen und diskutiert werden. Die Biographieforschung kann dabei als eine fruchtbare Methode die Perspektive auf die Nachkriegszeit erweitern.
Im Sommersemester 2022 haben Teilnehmende des BA-Seminars „Von Aggressoren, Opfern und Verlierern: Biographien in der japanischen Nachkriegszeit“ unter der Leitung von Dr. Chantal Weber im Rahmen eines Lehrprojekts Biographien zu verschiedenen historischen Persönlichkeiten untersucht und ihre Ergebnisse in eigenen Texten online veröffentlicht. Das Projekt kann als ein weiterer Versuch gewertet werden, mit einem multiperspektivischen Ansatz die Vergangenheitsbewältigung in Japan zu erfassen und sie mit einer Auswahl von Biographien aus der Nachkriegszeit auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen, da der Umgang mit der Kriegsvergangenheit dort beginnt, wo der Krieg zur Vergangenheit wird. Doch das Ziel des Lehrprojekts geht ebenso wie die darin dargestellten Lebensgeschichten weit darüber hinaus. Es werden nämlich Biographien von Menschen untersucht und vorgestellt, welche den Krieg zwar erstmals als ihre Vergangenheit verarbeiten mussten, ihn aber auch bereits zuvor als ihre Zukunft erwartet und als ihre Gegenwart erfahren haben. Zudem verbindet diese Personen, welche hinsichtlich ihrer Berufe, gesellschaftlichen Stellung und politischen Einstellung zunächst sehr unterschiedlich erscheinen, auch die spärliche Zuwendung, die ihnen in der Forschung zuteilwird. Mit der Feststellung dieser Gemeinsamkeiten war die erste Hürde zur Konzeption des Projekts überwunden: Nämlich die Frage, ob eine Auswahl verschiedener, wenig bekannter Biographien unter einem Thema zusammengestellt und erkenntnisbringend erforscht werden kann.
Für die Studierenden war das Projekt in vielen Aspekten eine neue Herausforderung, da sie nicht nur Erkenntnisse aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Biographien und ihrer Kontextualisierung gewonnen haben, sondern auch einen ersten Einblick in bis dahin unversuchte und womöglich auch unterschätzte Arbeitsprozesse erhalten konnten. Alle Teilnehmenden haben sicherlich eigene individuelle Erfahrungen gesammelt und daraus unterschiedliche Lehren für sich gezogen. Es gab jedoch auch einige Erkenntnisse, welche für alle Teilnehmenden relevant sind:
- Keine Prüfung, sondern eine Geschichte
Es war nicht für jeden einfach, die übliche Herangehensweise bei der Anfertigung
von Hausarbeiten oder Aufsätzen abzulegen und eine neue Einstellung zum Schreiben von wissenschaftlichen Texten einzunehmen. Die meisten Studierenden sind bei ihren Arbeiten darum bemüht, ihr inhaltliches und methodisches Wissen unter Beweis zu stellen, denn schlussendlich werden die Texte in der Regel nur von den Dozierenden gelesen. Bei dem Lehrprojekt haben sich die Studierenden selbstverständlich auch an wissenschaftliche Richtlinien gehalten, doch es ging nicht darum, eine Prüfungsleistung zu erbringen, sondern fesselnde (Lebens-)Geschichten zu erzählen, welche veröffentlicht wurden – das musste erst verstanden werden.
- Die Verantwortung einer Publikation
Diese erste Erkenntnis leitet über zu einer weiteren: Die Beiträge werden unter dem eigenen Namen publiziert. Sie sind online für jeden zugänglich und lassen sich wie jede wissenschaftliche Arbeit der eigenen Person als Urheber*in zuordnen. Damit ging mehr Verantwortung einher, da diesmal keine gute oder schlechte Note auf dem Spiel stand, sondern der eigene bleibende Abdruck in der Wissenschaft. Diese Einsicht erhöhte zwar einerseits den Druck, brachte jedoch andererseits auch den Ehrgeiz und Willen hervor, eine gute und überzeugende Leistung zu erbringen.
- Teamarbeit
Der Erfolg dieser Leistung war vor allem von einer guten Zusammenarbeit abhängig, was für einige Studierende eine große Umstellung bedeutete. Es ist spannend, wenn zunächst gemeinsam Ideen formuliert werden und jede Meinung gleich gewichtet wird. Doch die Umsetzung dieser Ideen birgt einen gewissen Aufwand und mehr Verantwortung als anfangs erwartet wurde. Die Strukturierung der eigenen Beiträge, das gemeinsame Verfassen von zusammenhängenden Texten, die Vereinbarung und Einhaltung von Fristen, gegenseitige und mehrfache Korrekturen, Problemlösungen im Plenum – all das erforderte viel Rücksicht und eine gute Abstimmung, was für viele eine neue Situation darstellte.
Solche Herausforderungen, Umstellungen und Verantwortungen verhelfen schlussendlich dazu, eigene und andere Leistungen aus einer neuen Perspektive zu betrachten und sich womöglich auch neu zu orientieren. Lehrprojekte wie diese bringen nicht bloß eine frische Abwechselung ins Studium, sondern verschaffen auch wertvolle und vielleicht einmalige Einblicke in die Arbeitsweisen in der Wissenschaft. Auch wenn unterschiedliche Erfahrungen und Eindrücke aus dem Web-Projekt „Biographien in der japanischen Nachkriegszeit“ mitgenommen werden, so steht am Ende eine gemeinsame Leistung und ein gemeinsamer Erfolg, den die Teilnehmenden allen Interessierten mit Freude auf der Projekt-Webseite vorstellen möchten.
(Dieser Text wurde von Yaren Gülsoy, Master-Studentin der Japanologie, verfasst.)