Hanami: Blütenschau mit wirtschaftlichem Effekt

DimiTalen, CC0, via Wikimedia Commons

Kirschblüten und Japan gehören zwar zusammen, erscheinen aber nicht unbedingt als ein Thema, das weitergehender japanologischer Betrachtung bedarf. Was können uns schon ein paar rosa Blüten über die Kultur oder Geschichte eines ganzen Landes sagen? Schaut man genau hin, gibt es aber sehr wohl viele spannende Blickwinkel auf dieses alljährliche Phänomen.

Botanisch gesehen bezieht sich sakura 桜 auf den Kirschbaum. Die bekannteste Unterart ist die Somei Yoshino, die für ihre zarten, rosafarbenen Blüten berühmt ist. Die Blütezeit variiert je nach Region und Sorte, aber sie beginnt in der Regel zwischen Ende März und Anfang April und dauert nur wenige Tage bis Wochen. Zahlreiche weitere Sorten erfreuen sich großer Beliebtheit, Guides erläutern, wann welche Blüten betrachtet werden können.

Da ist es verwunderlich, dass es nicht die heute so eng mit Japans Jahreszeiten verbundene Kirschblüte war, die den Ursprung der alten Tradition darstellt: Bis in die Heian-Zeit stand stattdessen die ume 梅 (Pflaume) und ihre Blüte im Vordergrund der kulturellen Würdigung in Gedichten und anderen Kunstwerken. Diese erfreut sich bis heute gemeinsam mit Kiefer und Bambus als glückverheißendes Trio shōchikubai 松竹梅 zum neuen Jahr großer Beliebtheit. Die Assoziation zwischen Sakura und dem beginnenden Frühling ist aber mittlerweile die stärker verbreitete. Und was mit Gedichten der Adligen über die Schönheit und Vergänglichkeit der Blüten begann, wird bis heute beispielsweise in einer großen Zahl von Popsongs fortgeführt. Passenderweise ist der Frühling in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Veränderungen, die die Songtexte aufgreifen: Das neue Schul- und Unijahr startet und mit dem neuen Fiskaljahr beginnen zahlreiche Arbeitsverträge ebenfalls im April jeden Jahres.

Reservierungen für das Firmen-hanami am Abend – whity, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Bäume der Sorten Somei Yoshino, Yamazakura und Shidarezakura schmücken noch immer in dieser Jahreszeit das Stadtbild, aber insbesondere auch Parks und andere öffentliche Grünflächen. Im heutigen Japan sind diese hanami 花見 (Blütenschauen) oft von Freunden, Familie oder Firma organisiert: Man trifft sich beispielsweise im Park, in dem teilweise schon in aller Frühe ein schönes Fleckchen durch das Auslegen der omnipräsenten blue sheets reserviert wurde. Teilweise wird sogar Campingmobiliar in den Park verfrachtet, um den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.

Gegessen werden meistens Picknick-kompatible Speisen wie bentô-Boxen, Sandwiches, onigiri おにぎりoder – wie der Name schon andeutet – hanami dango 花見団子, also gedämpfte Klöße aus Reismehl in frühlingshaften Farben. Diese können selbstgemacht sein, oft bringen jedoch die Beteiligten auch einfach etwas aus dem saisonalen Angebot der umliegenden Supermärkte mit. Das Getränkeangebot ist breit und für erwachsene Teilnehmende oft alkoholisch.

hanami dango – Maakun at the Japanese language Wikipedia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Auch wenn sich zu späterer Stunde der Alkoholpegel der Feiernden in der Lautstärke zeigt, sind die Parks sehr um ein gewisses Maß an Ordnung bemüht. Sie stellen zusätzliche Abfallsammelstellen und Toiletten zur Verfügung und entsenden ihre Angestellten, um die Parkregeln durchzusetzen. Diese unterscheiden sich je nach Ort, oft heißt es jedoch: Keine Grills und bitte nicht auf die Bäume klettern oder Zweige abreißen.

Die Forderung nach einem respektvollen Umgang mit der Natur wurde in den letzten Jahren umso lauter, je größer die Aufmerksamkeit für ein weiteres Thema wurde. Viele der Sakura-Bäume leiden an Überalterung, müssen gefällt oder durch weitreichende Maßnahmen gesund erhalten werden. Während einige Wildformen über tausend Jahre alt werden können, wie Jindai-Zakura in Yamanashi, sind die gezüchteten Bäume an populären hanami-Orten mit 70 bis 80 Jahren in einem Alter, in dem sie nur noch wenig blühen und mit Krankheiten kämpfen. Projekte wie das dieses Jahr vorgestellte Sakura AI Camera bemühen sich hierbei um ein aktives Monitoring des Gesundheitszustandes von Bäumen.

Über die reine Betrachtung der Festlichkeiten und Bäumen hinaus ist die Zeit der Kirschblüte auch in vielerlei anderer Hinsicht interessant. Ein Beispiel ist die Wirtschaftsmacht, die ihr zugeschrieben wird. In Analysen aus dem Jahr 2024 rechnet man mit 1,39 Billionen Yen. Spannend ist hier, welche Einnahmebereiche mit einbezogen wurden: Zum einen sind das selbstverständlich die beim Hanami verzehrten Speisen und Getränke, die dem Lebensmitteleinzelhandel, aber auch Restaurants und Cafés mit Liefer- oder Mitnahme-Angeboten Sonderumsatz bescheren.

ume-y, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Darüber hinaus gibt es aber noch eine weitere Herangehensweise, diese spezielle Saison finanziell zu nutzen. Viele Hersteller setzen auf die Attraktivität von kikan gentei 期間限定-Produkten, also zeitlich, z.T. auch zahlenmäßig begrenzt verfügbare Sonderversionen. Während die Klassiker sicherlich die schlicht mit Sakura-Designs dekorierten Bierdosen der großen Brauereien sind, entwerfen andere Produkte, die tatsächlich Sakura oder Kirschen, mindestens aber ein zartes Kirschblütenrosa enthalten. Über den Lebensmittelmarkt hinaus werden Duft und Farbe gerne genutzt. Sei es ein spezielles Parfum einer internationalen Marke, eine Disney-Sonderkollektion oder schlicht Waschmittel oder WC-Lufterfrischer aus der Drogerie nebenan, der Produktentwicklungsfantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Zudem nutzt die Tourismusbranche diese Zeit des Frühlingsbeginns. Feste, aber auch Touren hin zu besonders schönen Hanami-Locations werden in speziellen saisonalen Magazinen vorgestellt und zur Buchung angeboten. Durch Stadtflucht oder Naturkatastrophen betroffene Gebiete setzen ebenfalls auf die Anziehungskraft ihrer Natur. So entsteht beispielsweise in Iwaki im Zuge des Iwaki Manbonzakura Project ein ganzer Sakura-Hain in Erinnerung an die Dreifachkatastrophe von 2011.

Auch internationale Japanreisende haben den Frühling als gute Zeit für einen Besuch erkannt, neben dem angenehmeren Wetter verglichen mit der Sommerzeit eben nicht zuletzt der Kirschblüte wegen. Laut der eingangs zitierten Studie sind sie aktuell für über ein Viertel der Sakura zugeschriebenen Einnahmen verantwortlich – Tendenz steigend. Sie investieren neben Reisekosten auch in saisonale Souvenirs, die wiederum die Assoziation des Landes mit den Blüten stärken.

Sakura in der Heerstraße in Bonn – Spielvogel, CC0, via Wikimedia Commons

Sakura wurden sogar zum Gegenstand internationaler Diplomatie – so schenkten beispielsweise japanische Offizielle in Washington oder Düsseldorf den Städten Kirschbäume aus Japan und viele der Bäume in Köln sind Geschenke der Partnerstadt Kyôto. Auch Privatleute und Hobbygärtner finden Gefallen an den Blüten, weswegen es mittlerweile ganze Guides der schönsten Orte zur Kirschblüte im eigenen Land gibt. In NRW veranstaltete beispielsweise die Stadt Bonn lange Zeit ihr Kirschblütenfest und sperrt heute noch Straßen, um dem Besucherandrang Raum zu schaffen. Die Tradition des klassischen, privaten Hanami mit Speisen und Getränken scheint hierbei trotz der Präsenz der Pflanzen in öffentlichen Parks weitestgehend unbekannt zu sein. Sakura funktionieren aber trotzdem bereits gut als Teil der Softpower Japans, denn von traditioneller Kultur bis hin zum Cosplay-Photoshoot werden zahlreiche positive Bezüge zum Land hergestellt.

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Fundstück aus dem Archiv: Provenienz des Buchs Kinrei 金鈴

Autorin: Chantal Weber

Cover des Gedichtbandes

Titelblatt des Bandes

Handschriftliche Widmung

 

 

 

 

 

 

 

 

Bei der Aufnahme eines Buchs aus einer Schenkung in den Bibliotheksbestand der Japanologie gab es eine große Überraschung: Im Gedichtband Kinrei 金鈴 (Goldene Glocke) von Kujō Takeko 九条武子 (1887-1928) aus dem Jahr 1921 fand sich eine handschriftliche Widmung. Dies ist an sich nicht ungewöhnlich und kommt bei geschenkten Büchern manchmal vor, aber die Überraschung lag in der Person, der das Buch gewidmet ist. Mit tei Berurīnaru-sensei 呈ベルリーナル先生 ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Anna Berliner (1888-1977) gemeint.

Anna Berliner

Die promovierte Psychologin lebte mit ihrem Ehemann Siegfried Berliner (1884-1961) Anfang der 1920er Jahren in Japan und hatte zahlreiche Kontakte zu den intellektuellen Kreisen dieser Zeit. Unter JapanologInnen ist sie vor allem als Autorin des ersten Buchs zum japanischen Tee-Weg auf Deutsch, Der Teekult in Japan (1930), und gemeinsam mit ihrem Mann als Leiterin der OAG-Geschäftsstelle in Leipzig zwischen 1925 und 1934 bekannt.

Als eine der wenigen Ausländerinnen jener Zeit beherrschte sie die japanische Sprache, so dass sie mit zahlreichen japanischen Persönlichkeiten Umgang pflegte. So arbeitete sie in der pharmazeutischen Firma von Hoshi Hajime 星一 (1873-1951) sowie bei Mishima Kaiun 三島海雲 (1878-1974), dem Inhaber der Lacto Company, Hersteller von Calpis, als Beraterin und war als Dozentin an verschiedenen Universitäten in Tōkyō tätig. Über ihre Freundschaft mit Nitobe Inazō 新渡戸稲造 (1862-1933), dem Autor des Buchs Bushido – the Soul of Japan (1899), traf sie u. a. viele Frauenaktivistinnen wie beispielsweise Hiratsuka Raichō 平塚らいてう (1886-1971). Auch Kujō Takeko, die Autorin des vorliegenden Bändchens, hat sie wohl persönlich kennengelernt. Ob sie das Exemplar jedoch direkt von dieser erhielt, erscheint unwahrscheinlich, denn die Zeichen in der Widmung verweisen auf eine Person mit dem Namen Moriya oder Moritani Kin 森谷金. Um wen es sich handelt, konnte bisher nicht geklärt werde.

Kujō Takeko

Als gesichert kann jedoch gelten, dass Anna Berliner das Buch tatsächlich gelesen hat. Denn in einem Beitrag aus dem Jahr 1928, „Japanische Frauen von heute“ in dem Buch Frauen jenseits der Ozeane von Margarete Driesch, gibt sie zwei Gedichte aus Kinrei in eigener Übersetzung wieder. Über die Autorin selbst schreibt sie: „Sehr beliebt ist die Dichterin Takeko Kujo, die als schönste Frau Japans gilt.“ (S. 152). Der Gedichtband ist die erste Veröffentlichung von Kujō, die Vorsitzende der buddhistischen Frauenvereinigung (Bukkyō fujinkai 仏教婦人会) war und sich mit der Gründung der Frauenuniversität Kyōto aktiv für die Bildung von Frauen einsetzte. Als Tochter des Abts vom Nishi Hongan-ji in Kyōto konnte sie auch bei ihren caritativen Aktivitäten wie der Einrichtung von temporären Krankenhäusern nach dem Großen Kantō-Erdbeben von 1923 auf die Unterstützung der buddhistischen Gemeinschaft der Jōdo shinshû setzen. Ihr Glaube an Amida Buddha kommt in ihren Gedichten zum Ausdruck, wenn sie über die Einsamkeit und Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens schreibt.

Stempel der Universität Hamburg

Aber wie ist das Buch nun in den Bestand der Kölner Japanologie gelangt? Im Buch findet sich ein Besitzstempel der Universität Hamburg: „Seminar für Sprache und Kultur Japans – Hamburg“. Der erste Lehrstuhlinhaber in Köln Ende der 1970er Jahre war Prof. Dr. Géza Dombrády (1924-2006), der zuvor Professor in Hamburg war. Von dort brachte er viele Bücher nach Köln, da sich das Institut im Aufbau befand und noch keine eigene Bibliothek besaß. Nach vielen Jahren in einer fast vergessenen Ecke des Archivs werden diese „Hamburger Bücher“ nun in den Bibliothekskatalog der Kölner Japanologie aufgenommen.

Wie das Buch in den Besitz der Hamburger Japanologie gelangte, lässt sich ebenfalls nachvollziehen. Als das jüdische Ehepaar Berliner 1938 gezwungenermaßen Deutschland für immer verließ, beauftragten sie ein Umzugsunternehmen, ihren Hausstand aus Leipzig an ihren neuen Wohnort in den USA zu überführen. Der Überseecontainer mit Büchern, Möbeln, Kleidung und Geschirr wurde jedoch in Hamburg von der Gestapo beschlagnahmt. Wie die Akten der Gestapo zum Verkauf des Eigentums des Ehepaar Berliners belegen, wurden japanischsprachige Bücher vom Seminar für Sprache und Kultur Japans der Universität Hamburg ersteigert. Dieses stand seit 1936 unter der Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Gundert (1880-1971), einem erklärten Nationalsozialisten. Während seiner Zeit in Japan als Lektor für deutsche Sprache an verschiedenen Hochschulen und später als Leiter des Japanisch-Deutschen Kulturinstitut in Tōkyō war er mit den Eheleuten Berliner bestens bekannt. Sicherlich wird ihm auch die Überführung der OAG-Geschäftsstelle von Leipzig nach Hamburg 1934 ohne Zustimmung oder Mitspracherecht der Gründer Berliner vom damaligen Vorsitzenden der OAG Tōkyō, Kurt Meissner (1885-1976), nicht entgangen sein. Es ist also anzunehmen, dass Gundert wusste, wessen Besitz er sich da unrechtmäßig aneignete.

Nicht immer lassen sich die Herkunft und Besitzverhältnisse eines Buchs lückenlos rekonstruieren. In diesem Fall jedoch gibt es genügend Anhaltspunkte, um die Provenienz von der Autorin über den Besitz durch Anna Berliner über die Universität Hamburg bis in den Bestand der Kölner Japanologie nachvollziehen zu können, ein Glücksfall.

Das Fundstück:

Kujō, Takeko, Sasaki, Nobutsuna: Kinrei (3-han). Tōkyō: Chikuhakukai 1921.
JAP/L5-8Kuj1

Literatur von Anna Berliner:

Berliner, Anna: „Japanische Frauen von heute“. In: Driesch, Margarete (Hrsg.): Frauen jenseits der Ozeane. Leipzig: Kampmann 1928, S. 143-156.

Berliner, Anna: Der Teekult in Japan. Leipzig: Verlag der „Asia Major“ 1930.

Literatur zu Anna Berliner:

Ball, Laura: „Profil von Anna Berliner“. In: Rutherford, Alexandra (Hrsg.): Psychology’s Feminist Voices Multimedia (abrufbar unter: http://www.feministvoices.com/anna-berliner/Internet).

Rode, Hans K.; Spang, Christian W.: „Anna and Siegfried Berliner“. In: Cho, Joanne Miyang; Roberts, Lee M.; Spang, Christian W. (Hrsg.): Transnational Encounters between Germany and Japan. New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 105-126.

Weber, Chantal: „Anna Berliner and her approach to Japanese culture.” In: WiNEu – Untold Stories: the Women Pioneers of Neuroscience in Europe, 2020 (abrufbar unter: https://wineurope.eu/anna-berliner-and-her-approach-to-japanese-culture/).

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Der Akiya-Renovierungsboom: Chance für Japans ländliche Regionen?

Die Wohnungssuche treibt einen in die Verzweiflung, die Nachbarn nerven oder die eigene Miete wurde wieder einmal erhöht? Da mag bei manchem der Gedanke aufkommen: Ich werfe einfach alles hin und ziehe aufs Land. Da habe ich Ruhe, bin in der Natur und günstiger wird es auch sein. Ein Leben wie in Totoro, das wär’s doch!

TANAKA Juuyoh (田中十洋), CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons

Schenkt man den sozialen Medien Glauben, ist das gerade in Japan der ideale Plan. Denn Häuser gibt es dort genug: Landesweit existierten laut Zahlen des japanischen Statistikbüros 2023 fast neun Millionen akiya 空き家, also dauerhaft unbewohnte Häuser. 3,8 Millionen von ihnen waren nicht für Verkauf oder Vermietung gelistet, sind also de facto verlassen. Ein solches Haus günstig kaufen, aufpolieren und schon hat man sich seinen Traum vom Eigenheim erfüllt, ohne lange Kredite abstottern zu müssen – das zeigen zumindest zahlreiche Videos und Berichte. Können akiya-Projekte für das Land wirklich Wege aus sozialen Problemen und in ein neues Landleben fernab der engen Mietwohnung sein?

田村淳, CC BY 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/3.0>, via Wikimedia Commons

Werfen wir zuerst einen Blick auf die akiya: Die Häuser stehen leer, weil die früheren Besitzer das Leben auf dem Land hinter sich lassen wollten. Oder ältere Hausbesitzer sterben, und jüngere Familienmitglieder erben den Besitz, ohne die Mittel zu haben, ihn zu erhalten. Manchmal wollen sie aber auch einfach nicht zurück aufs Land ziehen. In einigen Fällen machen ein restriktives Erbrecht oder Grundsteuern den Verkauf oder Abriss von akiya finanziell unattraktiv oder gar unmöglich.

Gleichzeitig gelten die leerstehenden Gebäude bei den Anliegern nicht nur als Schandfleck, sondern können zu einer akuten Gefahr werden: Das Noto-Beben von 2024 zeigte erneut, dass baufällige Gebäude zusammenbrechen, Rettungswege blockieren und später auch der Wiederaufbau durch die unklaren Besitzverhältnisse behindert wird. Des Weiteren sind Feuer keine Seltenheit und können in dicht bebauten Gebieten direkt auf die Nachbarschaft übergreifen, zumindest aber Schadstoffe freisetzen. Auch unerwünschte Mitbewohner wie Kakerlaken oder Termiten fühlen sich in den Holzbauten sehr wohl. Der Druck auf die Gemeinden und Eigentümer ist also hoch, etwas gegen den Leerstand zu tun.

田村淳, CC BY 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/3.0>, via Wikimedia Commons

Da die in Japan sonst übliche Vorgehensweise – abreißen und neu bauen – bei diesen Gebäuden oft aus rechtlichen Gründen keinen Einsatz finden kann, ist die Renovierung von akiya zu einer Schlüsselstrategie bei den Bemühungen um die Wiederbelebung der ländlichen Gebiete Japans geworden. Gemeinden, die das Potenzial dieser Häuser erkannt haben, haben akiya-Banks eingerichtet – Datenbanken, in denen leerstehende Immobilien zum Verkauf oder zur Miete angeboten werden, oft zu sehr niedrigen Preisen. Einige sind sogar kostenlos, sofern sich die neuen Eigentümer verpflichten, sie zu renovieren und selbst darin zu wohnen.

Für die Gemeinden hat dieser Ansatz mehrere Vorteile. Renovierte akiya bringen neue Bewohner, die zur lokalen Wirtschaft beitragen. Renovierungen helfen gleichzeitig auch, das kulturelle Erbe dieser Regionen zu bewahren; viele akiya sind schöne kominka 古民家, die eine traditionelle japanische Architektur aufweisen, mit Holzbalken und Stroh- oder Reetdächern. Indem sie diese Häuser restaurieren, erhalten die neuen Besitzer nicht nur die Gebäude, sondern auch ein Stück Geschichte.

Babarracus (talk) (Uploads), CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons

In einigen Gegenden bieten die lokalen Regierungen Zuschüsse für Renovierungen an oder helfen bei der Abwicklung des oft komplizierten Kaufprozesses. Diese Initiativen zielen darauf ab, das Leben auf dem Land attraktiver und zugänglicher zu machen.

Hilfe bei diesem Problem kommt von unerwarteter Seite: Youtuberinnen, Tiktoker und andere Social Media-Nutzer:innen auf der Suche nach neuen, besonderen Themen sehen in den alten Häusern eine Gelegenheit, ihre Renovierungen und Do it yourself-Projekte einem breiten Publikum zu präsentieren. Sie stammen aus Japan und der ganzen Welt und produzieren Inhalte in verschiedenen Sprachen. Die Heimwerker:innen dokumentieren dabei ihre Erfahrungen als frischgebackene Hausbesitzer:innen sowie die Arbeit der lokalen Handwerker, die noch Kenntnisse für das (Wiederauf-)Bauen in solchen alten Häusern besitzen. Auch die Interaktion mit den Anwohner:innen und der Umgang mit der neuen, ländlichen Umgebung ist oft Teil der Videos. Finanzielle Details und Tipps werden ebenfalls geteilt. Die Nutzungspläne für die Häuser sind vielfältig, viele bauen sich und ihrer Familie ihr Traumhaus, während andere Cafés eröffnen, einen Bauernhof oder ein Unternehmen aufbauen. Einige geben als akiya-Unternehmer auch Tipps für das erfolgreiche Investieren in Häuser für Mieteinnahmen oder den Weiterverkauf.

Auch auf die Risiken und Probleme der Renovierungen gehen viele Berichte ein. Oft geht der Erwerb der Immobilien nämlich mit weitaus größeren Kosten als nur dem verführerisch günstigen Preis des Hauses einher. Viele akiya sind alt und wurden jahrzehntelang vernachlässigt, was zu schweren strukturellen Schäden, Termitenbefall und Problemen mit Schimmel geführt hat. Auch veraltete, mittlerweile als gefährlich eingestufte Baumaterialien wie Asbest können für böse Überraschungen sorgen. Viele Bauten sind nicht erdbebenfest, benötigen neue Verkabelung und Rohrsysteme. Selbst wenn die Häuser kostenlos oder zu einem minimalen Preis angeboten werden, können sich die Renovierungskosten so schnell auf mehrere Millionen Yen belaufen.

Ein weiterer Problempunkt ist die eingeschränkte Erreichbarkeit ländlicher Gebiete, die potenzielle Bewohner abschrecken kann. Viele akiya befinden sich in abgelegenen Dörfern mit einer mangelhaften Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, kaum vorhandenen lokalen Annehmlichkeiten für die tägliche Versorgung und begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten. Für jüngere Familien oder Berufstätige kann ein Umzug in diese Gebiete bedeuten, dass sie ihren Zugang zu Karrieremöglichkeiten, Bildung und Gesundheitsversorgung opfern, die oft in Japans Städten konzentriert sind. Dies macht den Umzug für diejenigen, die nicht im Homeoffice arbeiten können oder die auf eine städtische Infrastruktur angewiesen sind, unattraktiv.

Bürokratische und rechtliche Hürden sind ebenfalls ein Hinderungsgrund. Beim Kauf eines akiya muss man sich oft mit komplizierten Gesetzen, unklaren Eigentumsverzeichnissen und uneinheitlichen lokalen Vorschriften auseinandersetzen. So müssen z. B. Gebäude auf Farmland weiterhin als Bauernhöfe betrieben werden, was wiederum die Einbeziehung der entsprechenden Stellen notwendig macht. Insbesondere ausländische Käufer kann der Prozess entmutigen, vor allem wenn sie bei den Interaktionen mit den örtlichen Behörden und Immobilienunternehmen auf Sprachbarrieren oder mangelnde Kompromissbereitschaft stoßen.

Darüber hinaus argumentieren einige Kritiker, dass die akiya-Banks und die damit verbundenen Revitalisierungsinitiativen nicht die eigentlichen Ursachen der Landflucht angehen. Das bloße Wiederbeleben leerstehender Häuser mit neuen Bewohnern löst nicht die umfassenderen Probleme der alternden Bevölkerung, des Mangels an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen oder der sinkenden Geburtenraten. Es steht zu befürchten, dass ein ausschließlicher Fokus auf Renovierungsprojekte tiefer liegende strukturelle Probleme nur verdecken, aber langfristig nicht beheben kann.

Akiya-Renovierungen versprechen für Japans ländliche Gebiete neue Hoffnung. Einerseits verhelfen sie alten Häusern zu einer neuen Nutzung und ziehen so auch Menschen an, die vorher nicht auf dem Land gewohnt haben. Durch ihre Restaurierung tragen sie zur Bewahrung des kulturellen Erbes bei und die neuen Bewohner:innen können gleichzeitig Impulsgeber für die lokale Wirtschaft werden. Es stellt sich aber die Frage, ob diese Initiativen tatsächlich zu dauerhafter Veränderung oder gar einer Umkehr der Land-Stadt-Bewegung führen werden oder nur ein kurzer Trend bleiben. Gleichzeitig bleibt auch das Schicksal alter Häuser in Städten wie Tôkyô zu beobachten: Können sie sich durch Renovierungen und starke Gemeinschaften gegen Redevelopment behaupten, oder verschwinden sie irgendwann aus dem Stadtbild?

Klien, Susanne: Urban Migrants in Rural Japan: Between Agency and Anomie in a post-Growth Society. New York: Sunny Press 2020.

Zahlen des japanischen Statistikbüros zu akiya, Stand: 2023.

 

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Weihnachten und Neujahr in Japan

Gibt es in Japan Weihnachten überhaupt? Was macht man da am 24. oder über die Feiertage? Japanolog*innen und Japaninteressierte hören diese Fragen, wenn sie an Weihnachten Freunde oder Familie treffen oder wenn sie sich in dieser Zeit in Japan befinden. Und während sich Antworten und Erwartungen sicherlich nach Ort und persönlichem Umfeld unterscheiden, gibt es dennoch einige breitere gesellschaftliche Entwicklungen, die einen genaueren Blick wert sind.

Das Christentum kam bereits im 16. Jahrhundert nach Japan. Ein von religiösen Aspekten losgelöstes Interesse an Weihnachten entstand aber erst in der Meiji-Zeit (1868-1912): Feierliche Dekorationen wurden als erstrebenswert modern, aber auch schlichtweg verkaufsfördernd angesehen. Ein Unternehmen, das diesen Trend erfolgreich nutzte, war Fujiya 不二家 in Yokohama, ein Lebensmittelhersteller, der für seine Konditorei und Süßigkeiten bekannt ist. Fujii Rin’emon 藤井林右衛門 (1885-1968) führte 1910, im Jahr der Geschäftsgründung, den für den Anlass festlich dekorierten „Christmas Cake“ ein. Diese frühe Form wurde als fruitcake beschrieben, was eine ursprüngliche Orientierung an britischen Weihnachtstraditionen nahelegt.

Christmas Cake
naotakem, via Wikimedia Commons

Seine finale Form als Strawberry Shortcake erlangte der „Christmas Cake“ aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier erfüllte die festliche Torte ihre Funktion als feierliche Speise, die für einen westlichen, amerikanischen Lifestyle und gleichzeitig auch für die wachsenden finanziellen Möglichkeiten eines Landes im Wirtschaftsboom stand. Die Kulturanthropologin Millie Creighton beschreibt sie 1991 als Mitbringsel des Vaters zu Weihnachten, über das sich die Familie und insbesondere die Kinder freuen.

Heute ist der Strawberry Shortcake nicht nur als Emoji 🍰  weltweit präsent, sondern scheint in Japan von einer breiten Mehrheit auch außerhalb der Familie mit Weihnachten assoziiert zu werden. So wirbt Fujiya aktuell nicht nur mit ganzen Torten und Kuchen, teilweise in Kollaboration mit Prominenten wie der Boyband Snow Man, sondern widmet auch eine Kategorie kleinen, weihnachtlichen Törtchen für eine einzelne Person mit dem Motto: Kotoshi no jibun wo homechaô 今年のじぶんをほめちゃおう! Lobe dich dieses Jahr selbst!

Und wie spiegelt sich Weihnachten im japanischen Stadtbild wider? Ist Halloween vorüber, erscheint in Großstädten wie Tôkyô schnell die nächste saisonale Deko. Am auffälligsten ist hierbei sicherlich die Beleuchtung, iruminêshon イルミネーションgenannt.

Guilhem Vellut from Annecy, France, via Wikimedia Commons

Diese kann sowohl privat und im Kleinen als auch beispielsweise durch lokale Einzelhandelsverbände zentral organisiert sein. So werden dann ganze Straßenzüge erhellt und zur Sehenswürdigkeit, ganz wie zur Kirschblüten- oder Herbstlaub-Zeit. Beliebt, und durch Videowalk-Youtuber auch für ein Publikum in aller Welt zugänglich gemacht, sind beispielsweise die Lichterinstallationen in Midtown.

Weihnachtsmärkte sind ebenfalls zunehmend Teil des Stadtbilds. Einige kleinere, wie beispielsweise der Markt in Roppongi oder in Midtown, sind kostenlos – für die wirklich großen, aufwändigen zahlt man aber meist Eintritt.

Dick Thomas Johnson from Tokyo, Japan, via Wikimedia Commons

Ein wenig anders ist auch das Angebot vor Ort. Klassiker wie Glühwein oder heiße Schokolade gibt es zwar, allerdings finden sich beispielsweise in Jingûmae auch viel traditionelle deutsche Küche und Bier. Nicht weiter verwunderlich, werden viele der Stände doch von deutschen Biermarken betrieben. Aus deutscher Sicht ungewohnt ist die aufwändige Präsentation der Gerichte und Getränke mit Weihnachtsmotiven.

Auch abseits der Märkte gibt es einige Besonderheiten bezüglich des Weihnachtsmenüs. Besonders auffällig ist die Präsenz der Fastfood-Kette KFC. Während die Hintergründe der Idee unklar sind, bewirbt die Firma seit 1973 ein spezielles, komplettes Weihnachtsmenü mit ihrem Fried Chicken, Beilagen und Dessert. Egal, ob ihr Ursprung ausländische Menschen auf der Suche nach einem Ersatz für einen US-Weihnachtstruthahn waren oder die begeisterte Reaktion von Kindern auf den verkleideten KFC-Lieferanten, die Werbung ist in der Weihnachtszeit omnipräsent und empfiehlt nachdrücklich eine Vorab-Reservierung des „Christmas Bucket“. Immer untermalt von einem Weihnachtssong von Takeuchi Mariya, sieht man hier einerseits Familien, aber auch Paare oder Freundesgruppen, die ihre Bestellung abholen, um dann zu Hause das Fest mit Fastfood zu begehen.

Die Assoziation von Weihnachten mit frittiertem Hähnchen haben sich mittlerweile auch andere Fastfood-Ketten sowie die Supermärkte und konbini zunutze gemacht. Pizza-Lieferdienste schickten sich in den letzten Jahren ebenfalls an, Weihnachtspartys zu versorgen.

Ein weiterer kommerzieller Aspekt des Festes sind die Geschenke: Hier werden Kinder, aber auch Partner oder Freunde bedacht. In Zeiten gestiegener Lebenshaltungskosten planen Eltern dieses Jahr im Schnitt dafür Ausgaben von ca. 5.600 Yen pro Kind ein. Interessant ist, dass den Umfragen zufolge auch Geldgeschenke von Eltern an Kinder gemacht werden. Dies erinnert an o-toshidama お年玉, Geldgeschenke an Kinder, die traditionell zu Neujahr üblich sind.

kagami mochi
clvs7, CC0, via Wikimedia Commons

Die Tage „zwischen den Jahren“ gehen in Deutschland oft nahtlos in Silvester und Neujahr über. Große Familienbesuche, wie sie hier in dieser Zeit stattfinden, sind in Japan aber häufig erst in den Neujahrstagen geplant. Diese Zeit funktioniert laut Creighton auch als traditioneller Gegenpol zum „importierten“ Weihnachten. Nach dem Fest wird der Schmuck zum 26.12. eilig durch Neujahrsdekorationen ersetzt, um alles rechtzeitig für das neue Jahr vorzubereiten – kurzfristige Deko-Aktionen am 31. sind verpönt. Weihnachtssnacks und -süßigkeiten in den Supermärkten weichen dem kagami mochi 鏡餅, einem Stapel aus zwei oder drei Reiskuchen mit einer Dekoration wie zum Beispiel einer kleinen Bitterorange obendrauf.

Sind alle Vorbereitungen wie der große Hausputz, das Schmücken des Eingangsbereichs mit Kiefernzweigen kadomatsu 門松, dem Aufstellen von kagami mochi und die Vorbereitung der Neujahrsspeisen o-sechi ryôri お節料理 geschehen, beginnt eine überaus ruhige Zeit, die viele im Land zu Hause mit der Familie verbringen. Silvesterpartys mit großem Countdown und Feuerwerk sind kaum zu finden.

Hanetsuki
By Nesnad – via Wikimedia Commons

Es wird ferngesehen oder an Neujahr auch gespielt, traditionelle Spielzeuge wie Kreisel oder hanetsuki  羽根つき, ein japanisches Federballspiel, sind weiterhin mit der Vorstellung von Neujahr verbunden. Haben Fastfood-Anbieter Weihnachten für sich in Beschlag genommen, wird zur Feier des neuen Jahres oft o-sechi ryôri gereicht. Auch diese kleinen, nur zeitaufwändig zuzubereitenden Speisen lassen sich in mehrstöckigen, lackierten Boxen im Kaufhaus oder Supermarkt vorbestellen. Schneller zubereitet sind die extralangen toshikoshi soba-Nudeln 年越し蕎麦. So gestärkt machen sich viele direkt nach Mitternacht am Neujahrstag, spätestens aber in den folgenden Tagen auf den Weg zum hatsumôde 初詣, dem ersten Schreinbesuch des neuen Jahres. Am Morgen des 1. Januar erwarten sie zudem die Neujahrs-Postkarten von Freunden und Bekannten.

Letztendlich macht die breite Vielfalt der Formen, wie Weihnachten und Neujahr in Japan verbracht werden, es unmöglich, alles in einem kurzen Blogpost abzubilden. Interessant wäre es zu untersuchen, wie Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen, mit divergenten Lebensentwürfen und aus verschiedenen Generationen diese Tage verbringen und bewerten. Nicht zuletzt ist auch die zunehmende touristische oder langfristige Präsenz von Menschen aus aller Welt ein Faktor, der zweifellos zukünftig das Begehen dieser Feste beeinflussen wird.

 

Creighton, Millie R.: „Maintaining Cultural Boundaries in Retailing: How Japanese Department Stores Domesticate Things Foreign“. In: Modern Asian Studies 25 (04) (1991), S. 675-709. doi:10.1017/S0026749X00010805

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Modestädte: Paris, London, New York… Tōkyō?

Dick Thomas Johnson, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Weltstädte der Mode kommen auch im Jahr 2024 scheinbar noch sehr euro-amerikazentrisch daher. Begründen lässt sich das sicherlich durch die weiterhin überwiegend weiße, westliche High Fashion. Während ihre Kundschaft und Produktionsstätten weltweit verteilt sind, bleibt das Image unverändert: Luxuslabel wie Louis Vuitton, Burberry oder Prada setzen ganz selbstverständlich auf ihre Herkunft als zentralen Punkt ihrer Markenidentität. Einzelne Kollektionspräsentationen mögen sie zwar kurz in die Welt hinausziehen, die großen Fashion Weeks und Messen versammeln die Industrie aber weiterhin an altbekannten Orten: Paris, London, New York.

Aber Trends werden heutzutage nicht mehr nur von Pariser Laufstegen herab diktiert, sondern entstehen auch organisch auf der Straße, durch Modemagazine und nicht zuletzt das Internet beschleunigt, auch im globalen Austausch. Die Stadt sollte also weiterhin eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen – schließlich ist sie ebenfalls Laufsteg, Foto-Hintergrund und nicht zuletzt auch Produktionsstätte. Wie also steht es um die Modestadt in einer globalisierten, in ständigem Austausch stehenden Welt?

Candida.Performa, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Position einer Metropole wie Tōkyō ist in diesem Kontext einen genaueren Blick wert. Lange Zeit war Japan, und somit auch seine Hauptstadt, in der westlichen Modewelt eine gern genutzte visuelle Abkürzung für Exotik – fremdartige Schnitte und archaisch scheinende Kleidungsstücke, sonderbare Schriftzeichen, in späteren Jahren gerne in Kontrast zum grauen Moloch Tōkyō und seiner hochmodernen Technologie. Mode in Japan war im Gegenzug hauptsächlich gleichgesetzt mit westlicher High Fashion. Designermode wurde im Idealfall importiert, andernfalls nachgeahmt und mit einem möglichst westlich scheinenden Label versehen. Werbegesichter und somit modische Idealfiguren waren weiße Models, körperliche Differenzen wurden als Unzulänglichkeit der japanischen Trägerinnen und Träger angesehen. Die Stadt Tōkyō musste zwangsweise als Laufsteg herhalten, besonders beliebt waren allerdings die Bereiche, die möglichst westlich schienen: breite Alleen, Backsteinbauten, Cafés mit internationaler Klientel und entsprechender Karte.

Bis die Mode in Japan ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelte und begann, sich auf dem Weltmarkt zu präsentieren und durchzusetzen, durchlief sie viele Veränderungen. Ein Weg, diese nachzuvollziehen, ist der Blick auf die Modestadt Tōkyō und ihre vielfältigen Zentren. Zwei prägende Orte, die im Gegenzug natürlich auch von der Mode geprägt wurden, möchte ich hier kurz vorstellen.

Tokyos 23 Sonderbezirke, mit Pins für Ginza und Harajuku

Lage von Ginza (rot) und Harajuku (blau), eigene Bearbeitung – Karte: tokyoship, Public domain, via Wikimedia Commons

Ginza

Die Meiji-Zeit (1868-1912) war eine bedeutende Ära des Wandels in Japan, die durch die rasche Modernisierung und Verwestlichung zahlreicher Aspekte der Gesellschaft gekennzeichnet war. Die Übernahme westlicher Kleidung durch die Elite und das aufstrebende Bürgertum war eines der vielen Symbole für eine Abkehr von Japans Abgeschlossenheit und eine Hinwendung zur Lebensweise der westlichen Industrienationen.

Sowohl durch ihr breites Angebot als auch durch ihre Funktion als Schaufenster, in denen diese Produkte visuell ansprechend dargeboten wurden, entwickelten sich Kaufhäuser zu wichtigen Kontaktpunkten mit dem Spektakel der Moderne.  Anders als ihre Vorgänger, in denen den Kaufwilligen erst auf Nachfrage Waren gezeigt wurden, präsentierten diese Häuser offen in ihren Auslagen, was sie anzubieten hatten. So befähigten sie ihr Publikum zu einem weiteren wichtigen Akt der Moderne – der Erschaffung einer eigenen Identität, eines eigenen Looks.

Weit verbreitet war westliche Bekleidung jedoch noch nicht, zu unpraktisch war sie beispielsweise in einer japanischen Wohnung. Dezidiert moderne Umgebungen wie Kaufhäuser oder Cafés hingegen luden dazu ein, die neuen Stücke zu präsentieren. Ginza, in Tōkyōs Chūō-ku, bot hierfür die perfekte Umgebung. Auch heute noch bekannt für Luxusartikel, Restaurants und Cafés, ließ die japanische Regierung hier ein Modellviertel nach westlichem Vorbild bauen. Anstelle eines geschäftigen Shitamachi-Viertels mit enger Holz-Bebauung trat eine edle Straße mit modernen Annehmlichkeiten wie Gaslampen, Straßenbahn und Geschäftsgebäuden in Ziegelbauweise.

Mogas in Ginza, 1928

Mogas in Ginza, 1928 – Kageyama Kōyō, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Freizeitbeschäftigung des gin-bura 銀ブラ entstand: entspanntes Schlendern auf der Ginza. Kaufhäuser und Cafés zogen alle die an, die sehen und gesehen werden wollten. Auch wenn in der Frauenmode elegante Kimono noch lange nach Ende der Meiji- und dem Beginn der Taishō-Zeit (1912-1926) das Bild dominieren sollten, waren darunter auch modische Trendsetter*innen. Eine neue Kategorie für sich eröffneten die moga der 1920er Jahre – „modern girls“ in Sinne der amerikanischen Flapper: junge Frauen, die unabhängig waren und das moderne Leben in der Stadt genossen, westlich gekleidet und mit Kurzhaarschnitten. Sie wurden literarisch wie auch im Film festgehalten, dienten als Werbefiguren für Kosmetikhersteller wie Shiseidō 資生堂 und verbreiteten das Image der Ginza als Trend-Epizentrum über Tōkyō hinaus.

Dieter Karner, Public domain, via Wikimedia Commons

Dieses Bild hielt sich bis in die Nachkriegszeit hinein, wobei die Hauptdarsteller*innen noch jünger wurden: Die in den 1960er Jahren entstandenen Miyuki-zoku みゆき族 (benannt nach der Ginza-Nebenstraße Miyuki-dōri) und ihre Begeisterung für sportliche, amerikanisch inspirierte Männermode sorgten für Massenaufläufe vor dem Ladengeschäft des Modelabels VAN. Ihre Informationsquelle waren neue Mode- und Lifestylemagazine wie die Heibon Punch 平凡パンチ (Erstausgabe 1964). Die Medien hingegen waren es auch, die sie  als delinquente Jugendgruppe, einordneten. Auch wenn die Jugendlichen nicht viel taten, was diese Vorwürfe gerechtfertigt hätte, störte ihre massenhafte Präsenz die Kundschaft der Ginza dermaßen, dass die Polizei eingriff und sie vertrieb.

Harajuku

Mit den beginnenden 1970er Jahren galt die modische Aufmerksamkeit zunehmend der Jugend: Die Babyboomer wurden erwachsen, zogen in die Städte und strebten nach Neuem. Im Modebereich zeigte sich dies zum einen in vielen neuen, jungen Labeln mit direkterem Draht zum internationalen Markt und seinen Trends, zum anderen aber auch in einer neuen Generation von Kreativen im Hintergrund. Sie ließen die teure Ginza hinter sich und zogen gen Westen: Shibuya und Shinjuku wurden zu Treffpunkten der Jugend.

Omotesandō

Modestraße Omotesandō – 663highland, Public domain, via Wikimedia Commons

Während viele Cafés und Boutiquen um die großen Bahnhöfe herum angesiedelt waren, rückte ein weiteres Viertel in Shibuya-ku in den Fokus: Harajuku bot den Modemacher*innen, aber auch Fotograf*innen, Stylist*innen und weiteren Kreativberufen eine Heimat. Die Mieten waren niedrig, gleichzeitig hatte die Gegend als gehobenes Wohnviertel, das auch der US-Armee zur Unterbringung ihrer höherrangigen Mitglieder diente, ein gewisses internationales Flair. Nach einer Anfangsphase mit klarem Blick gen Westen entwickelte sich aber hier ein eigenes Mode-Ökosystem, dessen Mitglieder den internationalen Blick auf japanische Mode lenken sollten. In den 1980er Jahren schockierten Rei Kawakubo, Issey Miyake und Yohji Yamamoto das Publikum der Pariser Fashion Weeks, während in den 1990er Jahren der Fokus auf Street Fashion gelenkt wurde. Menschen von der Straße, die sich anzuziehen wussten und immer auf dem neuesten Stand waren – die gab es in Harajuku zur Genüge. Internationale Designer bemerkten sie auf ihren Recherchereisen, aber auch über Fotografie-Magazine und einzelne Subkulturen verbreitete sich ihr Ruf weltweit. Das Viertel, aber auch die Modestadt Tōkyō, hatten erstmals die volle internationale Aufmerksamkeit.

Hier kann aus Platzgründen nicht die komplette modische Entwicklung Tōkyōs nachvollzogen werden, daher untenstehend der Verweis auf weiterführende Literatur in unserer Bibliothek. Festzuhalten bleibt aber, dass die Stadt sich zumindest einen Platz in der erweiterten Riege der Modestädte erarbeiten konnte. Luxuslabels aus Paris oder Mailand zeigten auf ihrer ständigen Suche nach dem Neuen in den vergangenen Jahren ein starkes Interesse am Bereich der Street Fashion. Im Zuge dieser Entwicklung konnte Tōkyō punkten: Zahlreiche Kreative, die in Harajuku ihre ersten Modeerfahrungen sammeln konnten, haben mittlerweile Posten als Designer*innen internationaler Labels. Sie reihen sich ein in die wenigen, aber erfolgreichen japanischen Marken, die sich den Respekt des westlichen High Fashion-Systems erarbeitet haben. Wann die Rangliste der Top-Modestädte sich allerdings zugunsten nicht-westlicher Städte verschieben und inwiefern Japan in dieser Entwicklung eine Rolle spielen wird, bleibt aber zu beobachten.

Lektüreempfehlung (verfügbar in der Bibliothek der Japanologie Köln):

Breward, Christopher; Gilbert, David (Hrsg.): Fashion’s World Cities. Oxford, New York: Berg 2006.

Nakamura, Non (Hrsg.): 70′ Harajuku: Non Nakamura presents. Tōkyō: Shōgakukan 2018.

Slade, Toby: Japanese fashion: a cultural history. Oxford, New York: Berg 2009.

Takano, Kumiko; ACROSS henshūshitsu; Sutorīto fasshon 1980-2020: teiten kansokuroku 40-nen no kiroku. Tōkyō: PARCO shuppan 2021.

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