Die Weltstädte der Mode kommen auch im Jahr 2024 scheinbar noch sehr euro-amerikazentrisch daher. Begründen lässt sich das sicherlich durch die weiterhin überwiegend weiße, westliche High Fashion. Während ihre Kundschaft und Produktionsstätten weltweit verteilt sind, bleibt das Image unverändert: Luxuslabel wie Louis Vuitton, Burberry oder Prada setzen ganz selbstverständlich auf ihre Herkunft als zentralen Punkt ihrer Markenidentität. Einzelne Kollektionspräsentationen mögen sie zwar kurz in die Welt hinausziehen, die großen Fashion Weeks und Messen versammeln die Industrie aber weiterhin an altbekannten Orten: Paris, London, New York.
Aber Trends werden heutzutage nicht mehr nur von Pariser Laufstegen herab diktiert, sondern entstehen auch organisch auf der Straße, durch Modemagazine und nicht zuletzt das Internet beschleunigt, auch im globalen Austausch. Die Stadt sollte also weiterhin eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen – schließlich ist sie ebenfalls Laufsteg, Foto-Hintergrund und nicht zuletzt auch Produktionsstätte. Wie also steht es um die Modestadt in einer globalisierten, in ständigem Austausch stehenden Welt?
Die Position einer Metropole wie Tōkyō ist in diesem Kontext einen genaueren Blick wert. Lange Zeit war Japan, und somit auch seine Hauptstadt, in der westlichen Modewelt eine gern genutzte visuelle Abkürzung für Exotik – fremdartige Schnitte und archaisch scheinende Kleidungsstücke, sonderbare Schriftzeichen, in späteren Jahren gerne in Kontrast zum grauen Moloch Tōkyō und seiner hochmodernen Technologie. Mode in Japan war im Gegenzug hauptsächlich gleichgesetzt mit westlicher High Fashion. Designermode wurde im Idealfall importiert, andernfalls nachgeahmt und mit einem möglichst westlich scheinenden Label versehen. Werbegesichter und somit modische Idealfiguren waren weiße Models, körperliche Differenzen wurden als Unzulänglichkeit der japanischen Trägerinnen und Träger angesehen. Die Stadt Tōkyō musste zwangsweise als Laufsteg herhalten, besonders beliebt waren allerdings die Bereiche, die möglichst westlich schienen: breite Alleen, Backsteinbauten, Cafés mit internationaler Klientel und entsprechender Karte.
Bis die Mode in Japan ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelte und begann, sich auf dem Weltmarkt zu präsentieren und durchzusetzen, durchlief sie viele Veränderungen. Ein Weg, diese nachzuvollziehen, ist der Blick auf die Modestadt Tōkyō und ihre vielfältigen Zentren. Zwei prägende Orte, die im Gegenzug natürlich auch von der Mode geprägt wurden, möchte ich hier kurz vorstellen.
Ginza
Die Meiji-Zeit (1868-1912) war eine bedeutende Ära des Wandels in Japan, die durch die rasche Modernisierung und Verwestlichung zahlreicher Aspekte der Gesellschaft gekennzeichnet war. Die Übernahme westlicher Kleidung durch die Elite und das aufstrebende Bürgertum war eines der vielen Symbole für eine Abkehr von Japans Abgeschlossenheit und eine Hinwendung zur Lebensweise der westlichen Industrienationen.
Sowohl durch ihr breites Angebot als auch durch ihre Funktion als Schaufenster, in denen diese Produkte visuell ansprechend dargeboten wurden, entwickelten sich Kaufhäuser zu wichtigen Kontaktpunkten mit dem Spektakel der Moderne. Anders als ihre Vorgänger, in denen den Kaufwilligen erst auf Nachfrage Waren gezeigt wurden, präsentierten diese Häuser offen in ihren Auslagen, was sie anzubieten hatten. So befähigten sie ihr Publikum zu einem weiteren wichtigen Akt der Moderne – der Erschaffung einer eigenen Identität, eines eigenen Looks.
Weit verbreitet war westliche Bekleidung jedoch noch nicht, zu unpraktisch war sie beispielsweise in einer japanischen Wohnung. Dezidiert moderne Umgebungen wie Kaufhäuser oder Cafés hingegen luden dazu ein, die neuen Stücke zu präsentieren. Ginza, in Tōkyōs Chūō-ku, bot hierfür die perfekte Umgebung. Auch heute noch bekannt für Luxusartikel, Restaurants und Cafés, ließ die japanische Regierung hier ein Modellviertel nach westlichem Vorbild bauen. Anstelle eines geschäftigen Shitamachi-Viertels mit enger Holz-Bebauung trat eine edle Straße mit modernen Annehmlichkeiten wie Gaslampen, Straßenbahn und Geschäftsgebäuden in Ziegelbauweise.
Die Freizeitbeschäftigung des gin-bura 銀ブラ entstand: entspanntes Schlendern auf der Ginza. Kaufhäuser und Cafés zogen alle die an, die sehen und gesehen werden wollten. Auch wenn in der Frauenmode elegante Kimono noch lange nach Ende der Meiji- und dem Beginn der Taishō-Zeit (1912-1926) das Bild dominieren sollten, waren darunter auch modische Trendsetter*innen. Eine neue Kategorie für sich eröffneten die moga der 1920er Jahre – „modern girls“ in Sinne der amerikanischen Flapper: junge Frauen, die unabhängig waren und das moderne Leben in der Stadt genossen, westlich gekleidet und mit Kurzhaarschnitten. Sie wurden literarisch wie auch im Film festgehalten, dienten als Werbefiguren für Kosmetikhersteller wie Shiseidō 資生堂 und verbreiteten das Image der Ginza als Trend-Epizentrum über Tōkyō hinaus.
Dieses Bild hielt sich bis in die Nachkriegszeit hinein, wobei die Hauptdarsteller*innen noch jünger wurden: Die in den 1960er Jahren entstandenen Miyuki-zoku みゆき族 (benannt nach der Ginza-Nebenstraße Miyuki-dōri) und ihre Begeisterung für sportliche, amerikanisch inspirierte Männermode sorgten für Massenaufläufe vor dem Ladengeschäft des Modelabels VAN. Ihre Informationsquelle waren neue Mode- und Lifestylemagazine wie die Heibon Punch 平凡パンチ (Erstausgabe 1964). Die Medien hingegen waren es auch, die sie als delinquente Jugendgruppe, einordneten. Auch wenn die Jugendlichen nicht viel taten, was diese Vorwürfe gerechtfertigt hätte, störte ihre massenhafte Präsenz die Kundschaft der Ginza dermaßen, dass die Polizei eingriff und sie vertrieb.
Harajuku
Mit den beginnenden 1970er Jahren galt die modische Aufmerksamkeit zunehmend der Jugend: Die Babyboomer wurden erwachsen, zogen in die Städte und strebten nach Neuem. Im Modebereich zeigte sich dies zum einen in vielen neuen, jungen Labeln mit direkterem Draht zum internationalen Markt und seinen Trends, zum anderen aber auch in einer neuen Generation von Kreativen im Hintergrund. Sie ließen die teure Ginza hinter sich und zogen gen Westen: Shibuya und Shinjuku wurden zu Treffpunkten der Jugend.
Während viele Cafés und Boutiquen um die großen Bahnhöfe herum angesiedelt waren, rückte ein weiteres Viertel in Shibuya-ku in den Fokus: Harajuku bot den Modemacher*innen, aber auch Fotograf*innen, Stylist*innen und weiteren Kreativberufen eine Heimat. Die Mieten waren niedrig, gleichzeitig hatte die Gegend als gehobenes Wohnviertel, das auch der US-Armee zur Unterbringung ihrer höherrangigen Mitglieder diente, ein gewisses internationales Flair. Nach einer Anfangsphase mit klarem Blick gen Westen entwickelte sich aber hier ein eigenes Mode-Ökosystem, dessen Mitglieder den internationalen Blick auf japanische Mode lenken sollten. In den 1980er Jahren schockierten Rei Kawakubo, Issey Miyake und Yohji Yamamoto das Publikum der Pariser Fashion Weeks, während in den 1990er Jahren der Fokus auf Street Fashion gelenkt wurde. Menschen von der Straße, die sich anzuziehen wussten und immer auf dem neuesten Stand waren – die gab es in Harajuku zur Genüge. Internationale Designer bemerkten sie auf ihren Recherchereisen, aber auch über Fotografie-Magazine und einzelne Subkulturen verbreitete sich ihr Ruf weltweit. Das Viertel, aber auch die Modestadt Tōkyō, hatten erstmals die volle internationale Aufmerksamkeit.
Hier kann aus Platzgründen nicht die komplette modische Entwicklung Tōkyōs nachvollzogen werden, daher untenstehend der Verweis auf weiterführende Literatur in unserer Bibliothek. Festzuhalten bleibt aber, dass die Stadt sich zumindest einen Platz in der erweiterten Riege der Modestädte erarbeiten konnte. Luxuslabels aus Paris oder Mailand zeigten auf ihrer ständigen Suche nach dem Neuen in den vergangenen Jahren ein starkes Interesse am Bereich der Street Fashion. Im Zuge dieser Entwicklung konnte Tōkyō punkten: Zahlreiche Kreative, die in Harajuku ihre ersten Modeerfahrungen sammeln konnten, haben mittlerweile Posten als Designer*innen internationaler Labels. Sie reihen sich ein in die wenigen, aber erfolgreichen japanischen Marken, die sich den Respekt des westlichen High Fashion-Systems erarbeitet haben. Wann die Rangliste der Top-Modestädte sich allerdings zugunsten nicht-westlicher Städte verschieben und inwiefern Japan in dieser Entwicklung eine Rolle spielen wird, bleibt aber zu beobachten.
Lektüreempfehlung (verfügbar in der Bibliothek der Japanologie Köln):
Breward, Christopher; Gilbert, David (Hrsg.): Fashion’s World Cities. Oxford, New York: Berg 2006.
Nakamura, Non (Hrsg.): 70′ Harajuku: Non Nakamura presents. Tōkyō: Shōgakukan 2018.
Slade, Toby: Japanese fashion: a cultural history. Oxford, New York: Berg 2009.
Takano, Kumiko; ACROSS henshūshitsu; Sutorīto fasshon 1980-2020: teiten kansokuroku 40-nen no kiroku. Tōkyō: PARCO shuppan 2021.