Bodo Wartke beweist (Wandel)Mut im Wohnzimmerkonzert

#takeover #kulturquarantäne #BodoWartke #TVnoir #Wohnzimmerkonzert

Von Philipp Lojak

Im Foyer tummeln sich die Leute, versuchen kurz vorher noch einen Sekt herunterzustürzen. Der Saal ist noch nicht ganz gefüllt, in Trippelschritten suchen die Konzertgänger*innen ihren Platz in der Stadthalle Bielefeld. Schließlich geht das Licht aus, es wird leise und die Spannung steigt. Alle sitzen gebannt und warten in Vorfreude auf den Künstler, die Welt vor den Türen des Saals vergessend. Nur die grün beleuchteten Notausgangschilder weisen auf eine Welt außerhalb dieses Konzertes hin. Dann kommt er auf die Bühne …

So hätte es vor etwa drei Monaten sein sollen. Ich hatte eine Karte für Bodo Wartkes Präsentation seines neuen Programms „Wandelmut“ in der Stadthalle Bielefeld, ein Geburtstagsgeschenk, das gebührend zelebriert werden sollte. Doch nachdem das Konzert des Klavierkabarettisten aus bekannten Gründen abgesagt wurde, sitze ich nun hier, vor meinem Monitor, und schaue mir sein Konzert auf der Videoplattform Youtube an.

Der Veranstalter „TV Noir“, der für die Produktion von Konzerten mit gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre, meistens in Schwarzweiß, bekannt ist, hat bereits in der frühen Phase der Corona-Krise im März und April Musiker*innen unterstützt und ihnen eine Plattform geboten. Musiker*innen, hauptsächlich Liedermacher*innen und Singer-Songwriter*innen, streamen über die Plattform „TV Noir“ aus ihrem eigenen Wohnzimmer. Die Konzerte sind behelfsmäßig aufgenommen, haben nicht immer den besten Ton, aber sie spiegeln das Lebensgefühl der Covid-19-Zeit wider. Denn nicht nur die Zuschauer*innen sind an ihr Zuhause gebunden, sondern auch die Künstler*innen, die durch freiwillig gezahlte Tickets unterstützt werden.

Das Konzert Bodo Wartkes fand am 26. April statt, als Livestream, diesmal aus dem Wohnzimmer des „TV-Noir“-Moderators Tex. Durch das Wohnzimmer wird ein Vorhang gespannt, eine Zimmerpflanze und eine Stehlampe zieren die provisorische Bühne. Am alten, verstimmten Flügel sitzt Wartke und spielt Songs der letzten Jahre, aber auch aus seinem neuen Programm „Wandelmut“. Dabei ist auffällig, wie unter den Umständen des Social Distancing bereits bestehende Lieder neue Bedeutung gewinnen. Ältere Titel wie „Bei dir heute Nacht“ (2015) oder „Dein Duft“ (2011) treffen auf das aktuell aufgrund von Social Distancing unerfüllte Bedürfnis zwischenmenschlicher, physischer Kontakte. Das Programm ist – typisch für Wartke – eine gute Mischung aus Humoresken und Liebesliedern, jeweils wortakrobatisch umgesetzt. Aus der Reihe fallen die zwei neuen, erst in der Quarantäne entstandenen Songs: zum einen eine Hommage an Christian Drosten, den virologischen „Fels in der Brandung“ in Deutschland, zum anderen eine Huldigung an die Zuschauer*innen, die zugleich das Bedürfnis Wartkes beschreibt, wieder live spielen zu wollen. In üblicher Wartke-Manier decken die Lieder eine stilistische Bandbreite ab: von treibender Boogie-Begleitung und Walking Basses zu stereotypischen, lateinamerikanischen Akkordbrechungen und kleinen Jazzimprovisationen. Das hat man allerdings schon alles einmal von Wartke gehört: Auch wenn das neue Album „Wandelmut“ als Titel trägt, hätte Wartke auch tatsächlich Wagemut zu etwas stilistisch Neuem beweisen können, zumal Wandelfähigkeit zu seinen großen Stärken gehört.

Im Unterschied zu der Situation im Konzertsaal führt nicht Wartke selbst, sondern „TV-Noir“-Moderator Tex durch den Abend, der zwischen den Songs Kurzinterviews mit dem Künstler führt und Fragen aus dem Live-Chat stellt. Wie lernt er neue Songtexte auswendig? Wann hat er das Lied geschrieben? Eine kleine Plauderei zwischen Freunden im Wohnzimmer. Dass das Konzert öffentlich im Netz gestreamt wird, scheint völlig ausgeblendet, die Frage nach Authentizität stellt sich gar nicht. Ab und zu verspielt oder verhaspelt sich der Musiker – nicht tragisch. Die Wohnzimmeratmosphäre suggeriert einen „safe space“ (unter Freunden ist doch alles erlaubt). Dies ist auch die große Stärke gegenüber den Konzertfilmen, die im Falle von „Was, wenn doch?“, Wartkes letztes Programm, bestenfalls mit der Gemütlichkeit eines Wohnzimmers kokettierten. Die kleinen Imperfektionen des Livestreams aber, das Provisorium, die schlecht sitzende Frisur Wartkes, sind hier das Vehikel, das den Zuschauer in das Geschehen zieht und Teil des Konzertes werden lässt. Es geht hier nicht um die Illusion eines Wohnzimmerkonzertes (wie bei „Was, wenn doch?“), der Zuschauer schaut wie durch ein Fenster in ein real existierendes Wohnzimmer. Und hier wird erst der Wandelmut wirklich bewiesen; denn um diese Imperfektionen zuzulassen, braucht es Mut.

Diesen zeigten auch viele andere Musiker*innen in den Streams von „TV Noir“: unter anderen die Singer-Songwriter*innen Dota Kehr, Mira Lu Kovacs und Francesco Wilking. Kovacs streamte ihre Musik aus ihrer Wohnung, Wilking aus seinem eigenen Studio, Dota Kehr traf sich wie Wartke mit Tex in dessen Wohnzimmer. Die Streams sind weiterhin abrufbar (unbedingt anschauen!) und ein kulturelles Zeugnis der Corona-Zeit.

… ich schalte den Bildschirm aus. Normalerweise würde nach so einem Konzert der Gang in die kühle Nachtluft folgen. Durchatmen, die Musik in einem resonieren lassen. Doch ich bin zu Hause: Ein unaufgeräumter Schreibtisch glotzt mich an, Stille hüllt mich ein. Das Glas, das vor einer Stunde noch mit Lagavulin gefüllt war, ist leer. Es hat etwas melancholisches, diese Art von Konzert. Es ist kein geselliges Happening, es ist privat und intim. Und das tut manchmal auch ganz gut.

Ab in die starken Arme: Von der versuchten Flucht aus der Angst in die Wärme.

#takeover #kulturquarantäne #M1 #EineStadtsuchteinenMörder #Residenztheater München

Von Cordelia Schlederer

In einer Angstsituation werden Freunde zu Feinden, Gewissheit wird zu Ungewissheit. Wem kann man noch trauen? Aber vor allem: Was ist das für eine Angst, die uns alle umtreibt und wo kommt sie her?

Wer hat Angst vor was eigentlich? Diesen Fragen nähert sich „M(1) – eine Stadt sucht einen Mörder“. Es handelt sich hierbei um den ersten Teil eines Triptychons, um ein in der Corona-Zeit entstandenes Hörspiel des Residenztheaters München und des Bayrischen Rundfunks. Denn: „Der Virus ist unter uns.“ Und weil deshalb kein Stück im Theater aufgeführt werden kann, nutzt „M(1) – eine Stadt sucht einen Mörder“ die Plattform Radio zur Veröffentlichung und zur Auseinandersetzung mit den realen und behaupteten Ängsten unserer Zeit.

Direkt zu Beginn der knapp 50-Minuten langen Audiodatei flüstert eine Stimme, die sich als die des Autors Schorsch Kamerun vorstellt, den Zuhörenden komplizenhaft ins Ohr. Beschrieben wird eine Bandbreite an Ängsten und Gefahren, bis die Stimme, nach dem Versprechen, auch wieder aufzutauchen, mit einem unheimlichen Geräusch erstirbt.

Die Haupthandlung ist eingebettet in eine imaginäre Krisensitzung von verschiedenen Akteur*innen, die über einen Mordfall beraten. Sie sind sehr abstrakt gefasst, so sitzen am Tisch die Unterwelt, der Schrecken und das Mysterium. Wer an der Sitzung zudem teilnimmt, sind die sogenannten „Experten“. Diese heben sich von den „normalen“ Mitgliedern der Sitzung ab. Wie in unserer Realität, in der Netz-Konferenzen als Tool genutzt werden, Politiker*innen in virtuellen Räumen über Lösungsstrategien nachdenken. 

Immer wieder wird man zurückgeholt in die Handlungsebene der Online-Krisensitzung. Dies wird zum einen deutlich durch eine Titelmelodie, die an Aufzugmusik erinnert, und zum anderen durch die Stimme des Moderators, der zum Teil die Gesprächsthemen der Akteur*innen vorgibt. Somit fungiert er gleichzeitig nicht nur als Moderator der Sitzung, sondern moderiert auch das gesamte Hörspiel. Ein weiteres wiederkehrendes Element stellen Interviewschnipsel mit einem Geflüchteten dar. Er erzählt von seiner Flucht und seinen persönlichen Erfahrungen mit dem deutschen Staat. Zäsuren bieten kurze musikalische Einspieler, Sirenengeräusche oder der Klang einer Megafon-Ansage. Die Verstärkung von Interview- und Geräuschebene evoziert ein Gefühl der Angst, des Misstrauens, der Unordnung, des Chaotischen. Die Durchsagen ordnen das Chaos, die Sirene verweist auf ein Unfallgeschehen.

Wie wirkt sich Angst auf eine Gesellschaft aus? Grenzen, Ordnung und Regeln, das sind Bestandteile einer Gesellschaft. Wenn diese aus dem Gleichgewicht geraten, entsteht Irritation. Eine Ungewissheit breitet sich aus, Vertrauen ist nicht mehr selbstverständlich. Angst und Panik werden geschürt. „You can’t trust your neighbour.“ Alles ist anders. Alles wird in Frage gestellt. Wieso noch dem Nachbarn vertrauen? Was macht also eine Gesellschaft in Zeiten der Ungewissheit aus? Was bleibt, wenn fundamentale Elemente nicht mehr so funktionieren?

In „M(1) – eine Stadt sucht einen Mörder“, setzt die Ausnahmesituation der Gesellschaft ein durch die Suche nach einem Mörder, der nicht gefasst werden kann. Und während in „M(1)“ ein Mörder gesucht wird, sucht unsere Gesellschaft jemanden, der für die Pandemie verantwortlich gemacht werden kann. So werden Freundschaften zu Feindschaften, die gesellschaftliche Spaltung schreitet voran. In „M(1)“ wird der Mörder auch „die Bestie“ genannt. Stellt Corona die Bestie unserer Gesellschaft dar?

In Zeiten der Unordnung beschreibt das Hörspiel als eine Reaktion vieler Menschen die Suche nach der starken Führung, die eine Richtung vorgibt. „Nichts wie ins Warme, ab in die starken Arme“ wird Mantra-artig wiederholt und somit der Wunsch nach trügerischer Sicherheit betont.

„M1“ eröffnet eine Vielzahl verschiedener Perspektiven auf das Thema Gesellschaft und Staat in der Krise. Das Hörspiel erzeugt eine Atmosphäre der Angst, verwirrt, führt zu Unbehagen. „Wer hat Angst vor was eigentlich“ bleibt als Frage zurück. Ebenso wie ein mulmiges Gefühl bei den Zuhörer*innen.

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/m-eine-stadt-sucht-einen-moerder

Von der Couch ins Museum

#takeover #kulturquarantäne #Hannah Arendt #DHM

von Sabrina Musekamp

„Aufgrund der derzeitigen Abstands- und Hygienemaßnahmen steht uns nur ein beschränktes Kontingent an Tickets zur Verfügung. Wir empfehlen Ihnen für Ihren Besuch ein Online-Ticket zu erwerben. Trotz eines Online-Tickets kann es zu Wartezeiten kommen, sollte es in der Ausstellung zu voll werden. Wir bitten um Verständnis für die derzeitige Situation“ – heißt es auf der Seite des Deutschen Historischen Museums (DHM). Nicht nur das DHM ist gezwungen, auf Alternativen in Zeiten der Pandemie zurückzugreifen, um sein Kulturangebot zu präsentieren, viele andere Veranstalter*innen von Kulturangeboten sind davon betroffen. Irgendwie muss es ja weitergehen.

So bietet das DHM Museumsbesucher*innen aktuell die Möglichkeit, die Wechselausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im sogenannten Pei-Bau in Berlin zu besuchen. Zudem ist die Dauerausstellung des DHM bereits seit 1. Juli wieder im Zeughaus zu sehen. Wer jedoch lieber von zu Hause aus ins Museum gehen möchte, der kann sich auch gemütlich auf die Couch setzen. 

Denn unter „FOLLOW ONLINE“ wird Kulturinteressierten die Möglichkeit gegeben, mit einer Bildergalerie einen ersten Blick in die Sonderausstellungen zu Hannah Arendt zu werfen. In Kooperation mit rbbKultur sind zudem Hörcollagen entstanden, welche Arendts Thesen und die Kontroversen, die um diese entstanden, lebendig machen und näher beleuchten. Einige Beispiele dazu kann der Museumsbesucher im Virtuellen direkt in Verbindung mit der Bildergalerie setzen. Die drei- bis fünf-minütigen Beiträge laden die Zuhörenden ein, sich mit Arendts Gedankenwelt auseinanderzusetzen. Fast scheint es, als würde die Philosophin höchstpersönlich ihre Gedanken ausführen, und reagiert auch mal verärgert über eine Kritik, untermalt von ihrem energischen Ziehen an einer Zigarette.

Neben den Bildern und Hörcollagen können Besucher*innen außerdem einen Ausstellungs-Blog aufrufen. Für Arendt war ‚Urteilen‘ gleichbedeutend mit politischem Handeln. Im Rahmen der Ausstellung werden hier Filminterviews gezeigt, in denen Menschen aus verschiedenen Bereichen und Berufen von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Urteilen erzählen.

Die Bilder in Verbindung mit den Hörcollagen und Videos bieten ein umfangreiches Rahmenprogramm zur eigentlichen, analogen Ausstellung und regen auf unterschiedliche Arten dazu an, sich mit Hannah Arendt – und zugleich mit zentralen Themen des 20. Jahrhunderts – auseinanderzusetzen.

Interessant ist zudem, dass das DHM ein eigenes Projekt namens „LeMO = Lebendiges Museum Online“ betreibt, ein Online-Portal zur deutschen Geschichte. Dieses Portal existierte schon vor Corona. Hier laden Objekte, Texte, Zeitzeugenberichte und andere Dokumente dazu ein, zu entdecken, zu recherchieren und sich zu informieren. LeMO richtet sich an eine breite Zielgruppe, an Jugendliche und Senior*innen, an alle Geschichtsinteressierten.

Vielleicht ersetzt dieses Angebot keinen Ausstellungsbesuch. Doch durch wenige Mausklicks kann Zeitgeschichte lebendig werden – ein spannender Zugang, gerade für Nicht-Museumsgänger*innen. Schließlich ist es wichtig, dass wir Augen, Ohren und das Herz offenhalten und bereit für Neues sind. Einfach mal ausprobieren!

https://www.dhm.de/ausstellungen/hannah-arendt-und-das-20-jahrhundert.html

„The Practice Of Emptying Space” – Kämpfen in Zeiten der leeren Räume

#takeover #kulturqurantäne #ThePracticeofEmptyingSpace # IraBrand #Theaterformen

von Helena Baur

Politiker*innen auf der ganzen Welt bedienen sich vielfach eines simplen wie bedeutungsschweren Bildes: la lutte contre COVID-19, unser Kampf gegen das Virus, fighting corona … Um das Motiv des Kämpfens geht es auch in der neusten Produktion von Ira Brand, Performance-Künstlerin, Schriftstellerin und Kuratorin. Allerdings wird hier gekämpft, um zu kämpfen – nicht um zu gewinnen.

Im Rahmen des Festivals „Theaterformen“ präsentiert sich ihre ursprünglich eingeladene Arbeit „Ways To Submit“ nun Corona-tauglich online. Ein veränderter Titel lässt es schon vermuten: Bei „The Practice Of Emptying Space“ handelt es sich nicht bloß um eine Übersetzung der Produktion ins Digitale. Vielmehr nutzt Brand die veränderten Rahmenbedingungen für eine Reflexion der Performance und eine künstlerische Auseinandersetzung mit den aktuellen, pandemiebedingten Lebensumständen.

Die diesjährige Ausgabe des Festivals setzt auf hybride Formen: Einige Performances finden vor Ort in Braunschweig statt, andere reisen als Theater-Per-Post bis in den Briefkasten der Zuschauer*innen und wieder andere wandern in virtuelle Welten. Dass für Brands Konzept eine Präsenzvorstellung mit Publikum unter Einhaltung aller Hygienemaßnahmen nicht zur Debatte stand, erklärt sich fast von selbst: Thematisch eingebunden in Fragen nach Machtverhältnissen, Dominanz und Unterwerfung, lädt die Performerin die Zuschauer*innen in „Ways To Submit“ zu einem je dreiminütigen Kampf mit ihr auf der Bühne ein – Körperkontakt pur.

Die in diesem Setting bereits durchgeführten Performances, besonders unvorhersehbar durch das immer anders interagierende Publikum, wurden aufgenommen. Eine etwa 25minütige Audiodatei (Sounddesign: Yas Clarke) und dreizehn eindrucksvolle fotografische Momentaufnahmen stiften zwei der drei Teile des nun online abrufbaren Stücks. Die dritte Säule bildet ein „Textfragment“, ein Essay von Ira Brand. In englischer oder deutscher Sprache (Übersetzung: Anna Johannsen) liest man von Kämpfen aus vergangenen Performances, von verschwindenden Menschen, ikonischem Corona-Alltag mit Zoom-Sitzungen, dem Verlangen nach körperlicher Nähe zu anderen Menschen und von leeren Räumen.

Auf den online in einer Galerie abrufbaren Fotografien, die das Lachen, die heftigen Atemgeräusche und die dumpfen Schläge auf der Audiospur visuell ergänzen, wirken die „Duette“ mal tänzerisch, mal energisch, hier vertraut, da feindlich. Aus den Fotografien wurde jeweils die Person, die mit Ira Brand „kämpft“, ausgelöscht und ausgebleicht, ist nur noch als weiße Silhouette erkennbar. „It feels close to erotic to pay such precise attention to the edges of another person.” Dem Bild des Kämpfens ist hier weniger ein gewaltvolles Gegeneinander, denn ein ästhetisches Miteinander inne. „The Practice Of Emptying Space“ weist auf die Entleerung sämtlicher Bereiche unter den aktuellen Umständen hin: leere Plätze in den Städten, geleerte Terminkalender, diese neuartige Lücke zwischen dem kleinen Ich und der sonst omnipräsenten Öffentlichkeit und nicht zuletzt das entleerte Gegenüber, das besonders in den Fotografien symbolisch Gestalt annimmt.

In der der Gesprächsreihe „The One Thing That Helped“ erzählt die Performerin von der einen Sache, die ihr im persönlichen Umgang mit der Krise geholfen hat: ihrem Schreibtisch. In freundlicher, respektvoller „Theaterformen“-Atmosphäre berichtet sie im Dialog mit Kuratorin Martine Dennewald von ihrem Heimarbeitsplatz, auf dem jetzt überall Ideen herumliegen, und von der Einrichtung ihres Wohnzimmers, ihrem Lebensraum in Zeiten von Corona.

Im diesjährigen Festivalprogramm, so Dennewald, ist Brands Arbeit einer von nur zwei Beiträgen, die sich mit Verlusten und Einschränkungen der analogen Kunst im digitalen Raum beschäftigen. Die anderen seien im Grundton deutlich positiver und sähen die Ausweichformate unter Umständen sogar als Bereicherung. Auch wenn Ira Brand kurz von ihren anfänglichen Bedenken erzählt, das Publikum könnte längst genervt sein von negativen Tönen – durch die persönliche Färbung, die der Essay dem Stück gibt, und durch die ästhetisch inspirierenden Fotografien besticht „The Practice Of Emptying Space“ mit seiner bedauernden, aber keinesfalls hoffnungslosen Stimmung, mit Charme und Tiefgang, und macht Vorfreude auf Zeiten, in denen Körperkontakte wieder ohne Einschränkungen möglich sind. Bis dahin regt die Performance auch dazu an, darüber nachzudenken, wie man die neuen „empty spaces“ anders gestalten und füllen möchte.

https://www.theaterformen.de/en/programme/the-practice-of-emptying-space

Insellage

Das Festival „Theaterformen“ findet vom 2. bis 12. Juli statt, online und live in Braunschweig

„No man is an island, entire of itself“, so beginnt ein vielfach zitiertes Gedicht des englischen Poeten John Donne. Unter dem Motto „A Sea of Islands“ zollt das Festival „Theaterformen“, das 2020 sein 30jähriges Bestehen feiert, mit seinem Programm keineswegs einer aktuell zunehmenden Vereinzelung Tribut, ganz im Gegenteil: Es betont die Vernetzung. Mit Produktionen von u.a. den Azoren, den Komoren, aus Sri Lanka und von den Färöer-Inseln rücken die vermeintlichen Peripherien ins Zentrum, die Zentren werden aufgelöst oder selbst zum Nebenschauplatz.

Für Festivalleiterin Martine Dennewald ist es die letzte Ausgabe von „Theaterformen“, die sie verantwortet. Ihr war es besonders wichtig, für die Künstler*innen eine verlässliche Partnerin zu bleiben – alle ausgesprochenen Einladungen blieben bestehen und die Künstler*innen darum gebeten, Formate zu erarbeiten, die auch unter den aktuellen Bedingungen gezeigt werden können. So entstanden Arbeiten, die die Zuschauer*innen nun auf unterschiedlichen Wegen ansprechen: Per Post erreichen Geschichten und Musik aus Kuba („Granma. Posaunen aus Havanna“; Rimini-Protokoll, Stefan Kaegi) oder Nachrichten von der durch Raubbau ökologisch wie ökonomisch zerstörten Insel Nauru („My Dear Prison Officer“; Silke Huysmans, Hannes Dereere, Negar Rezvani) das Publikum. Videoprojekte sind entstanden, die kostenfrei online für einen kurzen Zeitraum zur Verfügung stehen. Einzelne Performances finden für ein vereinzeltes Publikum auch vor Ort in Braunschweig statt. Und manche Begegnungen wurde erst möglich durch Corona: Selina Thomson bereiste 2017 die Schiffsroute des Sklavenhandels, die ihre Vorfahr*innen aus Ghana nach Jamaika und dann nach Großbritannien brachte. Statt ihre Performance zu zeigen, diskutiert die Künstlerin nun am 8. Juli mit Saidiya Hartman (Literaturwissenschaftlerin und Professorin an der Columbia University).

Begleitet wird das Programm durch die Gesprächsreihe „The One Thing That Helped“. Hier spricht Dennewald mit den Künstler*innen des Festivals über ihren Umgang mit der Pandemie und über das eine Ding, das ihnen über die vergangenen Corona-Monate in ihrer künstlerischen Arbeit geholfen hat.

„Theaterformen“ findet statt, anders, aber nicht weniger ambitioniert. Eine Kulturinsel, die besucht werden sollte.

https://www.theaterformen.de/de/programm

„zeitfuereinander“ – daten, lauschen, lästern

#Takeover #Kulturquarantäne #zeitfüreinander

Von Maja Machnik

Wie der Untertitel „Dating in Zeiten von Social-Distancing“ bereits verrät, bearbeiten in der Webserie „zeitfüreinander“ zehn Schauspielerinnen und Schauspieler die Herausforderungen des Kennenlernens in Zeiten von Corona. Um den Lock-Down herum entstand dieses Projekt als Zusammenarbeit von fünf deutschen Theatern (Deutsches Theater Berlin, Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspiel Hannover, Residenztheater München, Staatstheater Nürnberg) allein durch die Aufnahme eines digitalen Videochats. Mittlerweile umfasst das Projekt zwei Staffeln mit jeweils fünf Folgen. Aber was genau passiert da jetzt?

Startet man das erste Video, wird einem erst einmal ein Opening für „zeitfüreinander“ gezeigt. Die männliche Stimme, die aus dem Off erklingt, spricht den Rezipienten oder die Rezipientin direkt an. Es folgt eine Art Werbeclip, der darauf abzielt, sich auf einem Dating-Portal zu bewerben. Denn jetzt sind doch alle allein, draußen ist nichts los. Gezeigt werden leere Straßen, über die ein grauer Filter gelegt wird, passend untermalt von melancholisch-trauriger Musik. Sogleich fühlt man sich sehr allein und möchte doch wenigstens irgendwie Menschen sehen, die zwar auch allein sind, sich aber kennenlernen möchten, um diese elende Einsamkeit, die in der Sequenz ja so deutlich visualisiert wird, endlich nicht mehr fühlen zu müssen. Und dann geht es los.

Man sieht einen Mann, der lässig auf dem Sofa lehnt und erstmal in die Kamera grinst. Muss man jetzt selbst aktiv werden und mit diesem fremden Mann etwa reden? Schnell wird aufgelöst, nein! Zum Glück! Jetzt erscheint eine Frau im Videochat. Man darf sich also gemütlich zurücklehne und die anderen belauschen, Peinlichkeiten inklusive.

Trotzdem bekommt die Situation Charme. Die beiden Dating-Kandidaten stellen sich erstmal namentlich vor, versuchen technische Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und lachen immer mal wieder verlegen. Jetzt ist man voll dabei, hört zu, was die Beiden so aus ihrem Leben und Alltag erzählen und rätselt schonmal, ob sie ein gutes Match werden könnten. Aber über was reden Sie da bitte? Schnell stellt sich ein großes Fremdschämen ein, das sich nicht so schnell wieder ablegen lässt. Auf einmal wird man aus seinen Gedanken gerissen, als einer der Beiden dann sagt: „Oh, jetzt läuft die Zeit gleich ab!“ Wie? Ein Dating-Portal mit einer Zeitbegrenzung? Schnell wird noch eine Frage gestellt, gerade hofft man noch, die Antwort zu hören, dann bricht der Videochat ab – und man befindet sich bereits in einem neuen Dating-Chat mit einem neuen Paar. Schade, man hatte sich grade an das vorherige Paar gewöhnt … Aber die Neuen sind ja auch ganz spannend! Man schaut auf den Hintergrund und fragt sich, wie der denn bloß eingerichtet ist? Komisch. Klischeehaft. Aber mit hohem Wiedererkennungswert und gefüllt mit den unverzichtbaren Hinweisen auf den Charakter oder die Profession der Liebessuchenden; da haben wir beispielsweise den erfolgreichen Makler, der auf eine Beziehungs- und Persönlichkeits-Coachin trifft, und sofort versucht, Parallelen in den jeweiligen Jobs zu finden, um sympathischer zu wirken. Und so geht es weiter, durch die Einrichtungen und Charakterstudien. Prinzip der Serie ist ein Partnertausch, so dass jeder einmal jeden datet. Jedoch nur auf heteronormativer Ebene, pro Chat trifft ein weißer Mann auf eine weiße Frau. Was auch eine Spiegelung der noch (?) dominanten Zusammensetzung der Ensembles in den Staatstheatern ist.

So viel sei verraten: In der zweiten Staffel wird das ein oder andere Gespräch von den Dating-Pärchen weiter fortgeführt, und es gibt eine Menge Enthüllungen. Da man aktuell noch wenig Möglichkeiten hat, anderswo unbemerkt am Leben anderer teilzuhaben, weil in einem Radius von 1,5 Metern sowieso nichts und niemand rumstehen darf und Abstand zu Allem und Jedem gilt, ist „zeitfüreinander“ ein toller Platzhalter!

https://www.zeitfuereinander.com/

„Drinnen – Im Internet sind alle gleich“ – Serienproduktion in Zeiten von Corona

#Takeover #Kulturquarantäne #WebserieDrinnen

Von Sophia Scherhag

Eines der durch die Ausbreitung des Corona-Virus neu entstandenen Medienformate ist die Webserie „Drinnen – Im Internet sind alle gleich“ von ZDFneo. Die Serie reagierte schnell auf die beginnende Pandemie und begleitet diese mit zugespitzten Klischees rund um den Virus: Ob Hamsterkäufe, Corona-bedingter Rassismus oder sich in der Distanz verstärkende Beziehungsprobleme, hier werden alle menschlichen und zwischenmenschlichen Probleme in Verbindung mit Corona aufgegriffen und in den Comedy-Stil der Serie eingearbeitet.

Die erste Folge beginnt mit der Vorstellung der jungen Mutter Charlotte, die ihr Leben in den Griff bekommen möchte, doch – wie auch die Zuschauer zur selben Zeit – durch viele lebenseinschränkende Restriktionen daran gehindert wird. Social Distancing macht sich auch in den Produktionsbedingungen der Serie bemerkbar: Die Hauptfigur ist immer allein in ihrer Wohnung, die Interaktionen, die stattfindet, verlagern sich auf ihre sozialen Netzwerke. Charlotte sitzt also vor allem an ihrem Schreibtisch und kommuniziert, an ihrem Laptop, über das Internet, mit Freunden und Familie. Dank Screencapturekönnen wir Zuschauer*innen verfolgen, wie und mit wem sie interagiert. Und auch hier werden wir wieder mit allzu nachvollziehbaren Alltagserfahrungen gefüttert, wie lästige Zoom-Konferenzen, Fake News auf Social Media und Einsamkeit, die mit einem Swipe auf Tinder in Vergessenheit geraten soll. Über WhatsApp und FaceTime wird kommuniziert, in rasanter Parallelität liefert der Bildschirm immer wieder neue Informationen – was zu absurden Situationen führt: Noch während Charlotte auf Tinder mit anderen Männern schreibt, erreicht sie ein Video-Anruf ihres Mannes, den sie damit beendet, dass sie den Eintrag „Markus über Scheidung informieren“ in ihren virtuellen Kalender einträgt, während sie gleichzeitig nach Corona-Symptomen googelt und befürchtet, ihre Chefin mit dem Virus infiziert zu haben. Ein Corona-Drama im Sekundentakt! Trotzdem – oder gerade weil – hier alles ungefiltert neben- und übereinanderher passiert und kommuniziert wird, kommen wir intensiv mit Charlottes Leben in Berührung. Ihr Stress ist auch unser Stress.

So mit Charlotte identifiziert, an die aufploppenden Tabs auf dem Laptop gewöhnt und bereit, sich auf die schnell einhagelnden Informationen einzulassen, wird die Serie zu guter Unterhaltung und punktet durch Witz und Andersartigkeit.

https://www.zdf.de/serien/drinnen-im-internet-sind-alle-gleich

Ein Lied fürs Leid – Nicolas Stemanns „Corona-Passionsspiele“

#Takeover #Kulturquarantäne #Corona-Passionsspiele

Von Hans Bonhage

Es war die Pest, die 1633 in einem bayerischen Dorf für zahlreiche Todesfälle verantwortlich war, woraufhin die Bewohner*innen schwuren, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen, wenn das Dorf von der Plage befreit würde – so der Gründungsmythos der berühmten Oberammergauer Passionsspiele, die seitdem einmal im Jahrzehnt stattfinden. Knapp 400 Jahre später kämpft die Welt mit der Corona-Pandemie und Nicolas Stemann ist einer von vielen Theaterschaffenden, die in ihrer Auseinandersetzung mit dieser Krankheit Parallelen zu Epidemien der Vergangenheit ziehen. Daraus entstand bei Stemann die Idee zu einem „Corona-Passionsspiel“, das als „virtuelles work-in-progress“ auf die sich rasend schnell ändernden Themen und Diskurse der gegenwärtigen Krise reagiert und diese lustvoll kommentiert.

Seit Ende März werden in kurzen, unregelmäßigen Abständen drei- bis vierminütige (Musik-)Videos veröffentlicht, in denen musical-artig – zwischen Schauspiel, Gesang und Tanz – Corona-Thematiken behandelt werden. Stemann schreibt, komponiert und inszeniert diese Videos in Zusammenarbeit mit der Video­künstlerin Emma Lou Herrmann und dem Ensemble des Schauspielhaus Zürich. Die Videos sind dabei oft voller Ironie und durchzogen von einer Absurdität, wie sie uns allen seit einigen Monaten sehr bekannt vorkommt.  Etwa, wenn in einem Video der Schauspieler Sebastian Rudolph auf einem Platz in Zürich steht und Goethes Osterspaziergang rezitiert, in dem von „des Dorfs Getümmel“ die Rede ist – bevor zum Ende des Videos sichtbar wird, dass er sich allein auf dem ansonsten menschenleeren Platz befindet.

Musikalisch reicht das Spektrum vom Liebeslied über ein Michael-Jackson-Cover bis hin zu einem elektronischen Stück à la Kraftwerk, inhaltlich werden die Clips bestimmt von den öffentlichen Diskursen der vergangenen Wochen und Monate: Es geht zunächst um das Kleinreden des Virus – China ist weit weg, was geht mich das an? –, dann um die Quarantäne, das Allein-Zuhause-Sein, die Omnipräsenz des Internets, Zoom-Probleme, die Sehnsucht nach Gesellschaft, Liebe und Beziehung auf Distanz. Die Viren tauchen als Figuren ebenso auf wie die besonders gefährdeten Großeltern, die Verschwörungstheoretiker*innen auf Anti-Corona-Demos – und Jesus. Die „solidarische“ Unterstützung für Luftfahrt, Automobilindustrie, Fußball-Bundesliga oder Baumärkte findet genauso Erwähnung wie die fehlende Unterstützung für ohnehin schon prekär lebende Künstler*innen. Auch auf visueller Ebene bleiben die Videos abwechslungsreich und vielfältig, die Ästhetiken reichen von einer Found-Footage-Montage bis zum Musikvideo, bei einigen Videos steht eine Narration im Vordergrund, bei anderen die Performance. Dabei gelingt es, Verzweiflung und Hilflosigkeit, die während der Pandemie wohl jede*r an irgendeinem Punkt empfunden hat, humorvoll und höchst unterhaltsam darzustellen.

Zu Beginn der Arbeit am Passionsspiel war noch nicht klar, ob es in der gegenwärtigen Situation je zu einer Aufführung im klassischen Sinne, d.h. auf einer Theaterbühne, kommen würde. So gibt es keine kohärente Handlung, keine übergreifende Dramaturgie. Vielmehr stellen die Videos kleine Versatzstücke dar, die gleichzeitig eine Chronik der Pandemie und eine Chronik der Entstehung einer Theaterarbeit über die Pandemie sind. Als Zuschauer*in kann man den kreativen Schaffensprozess ebenso „live“ mitverfolgen wie die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die direkte Auswirkungen auf die Produktionsbedingungen haben: Während sich zu Beginn nur einzelne Darsteller*innen in einem Raum befinden und sich selbst filmen, kommt es nach und nach zu mehr menschlichem Kontakt, in den letzten Folgen befinden sich dann bereits mehrere Personen im selben Raum.

Mittlerweile ist es durch die Lockerung der Maßnahmen sogar wieder möglich, Theater auf einer Bühne vor Publikum zu spielen und die Corona-Passionsspiele werden am kommenden Wochenende (26.06. und 27.06.) in Zürich aufgeführt. Es wäre sicher spannend, zu sehen, welche Formen und Inhalte es aus den Videos auf die Bühne schaffen. Aber dieses Videotagebuch der Corona-Passionsspiele sei auch allen, die nicht die Möglichkeit haben, für die Aufführung nach Zürich zu fahren, ans Herz gelegt, weil es das absurde, ironische, kreative Potential des Theaters feiert. Die „Corona-Passionsspiele“ finden ein analoges Happy (?) End – übrigens ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Oberammergauer Passionsspiele coronabedingt ausfallen müssen.

https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18106/corona-passionsspiel

„Die Pest“ 2020 – Der Augenblick des Nachdenkens

#Takeover #Kulturquarantäne #DiePest

von Helena Baur

Wie viele andere präsentiert sich auch das Theater Oberhausen nicht untätig in Zeiten von Corona und lädt mit der Miniserie „Die Pest“ zu einer fast schon historisch anmutenden Reflexion der aktuellen Situation ein. Aber so sehr es auch um die globale Pandemie zu gehen scheint, so kommt doch an keiner einzigen Stelle das Wort „Corona“ vor – und vielleicht macht gerade das den Charme dieses Formats aus …

„Die Idee zu diesem Projekt entstand nach der Schließung der Theater Ende März 2020. Die Beteiligten haben sich nie getroffen.“

„Die Pest“ ist eine Miniserie des für sein filmisches Interesse bekannten Regisseurs Bert Zander auf Grundlage des gleichnamigen Textes von Albert Camus. Die Episoden wurden nacheinander jeden Samstag im Mai in der 3sat-Mediathek zur Verfügung gestellt und sind dort noch bis November abrufbar. Verglichen mit den bei digitalen Theaterproduktionen oft angetroffenen „für 24 Stunden verfügbar“ findet damit hier keine digitale Nachahmung der Flüchtigkeit des Theatererlebnisses statt. Dies ist nur einer der Aspekte, der „Die Pest“ von der Flut kurzfristiger Corona-Theaterkunst im Netz hervorhebt.

Inhaltlich wurde in das Gerüst, das durch Camus‘ Textvorlage besteht, kaum eingegriffen. Die Figuren berichten von toten Ratten, Mutmaßungen über den Ausbruch der Pest, toten Menschen, Ausgangsbeschränkungen und der Suche nach einem Impfstoff. Familien können bei den Beerdigungen ihrer Verwandten nicht dabei sein, Liebende sind durch Abriegelung der Grenzen voneinander getrennt, Menschen verlangen nach Nähe – und wer jetzt gedanklich noch bei der Pest ist, muss wohl seit einigen Monaten auf einer einsamen Insel gelebt haben. Die Pest ist sicher nicht gleichzusetzen mit der aktuellen Covid19-Pandemie, doch ist es geradezu unheimlich, wie sehr einzelne Sätze exakt in unsere gegenwärtige Lebenswelt übertragbar sind. „Die Pest“ muss sich um Aktualitätsbezüge keine Sorgen machen – wenn man hier Camus‘ Worte hört, ist der Realitätsbezug so stark, dass man mehr hineinliest als das, was eigentlich ausgesagt wird.

Die Ästhetik treibt die gegenwärtigen, unter Umständen geisterhaften Zustände innovativ auf die Spitze. Wer das eine oder andere digitale Theaterprojekt der vergangenen Wochen verfolgt hat, ist vermutlich auch Zeuge verschiedener Split-Screen-Optiken geworden. Dessen mittlerweile zunehmend überdrüssig, ist das, was Bert Zander hier inszeniert, für das „ausgeZOOMte“ Publikum eine Erfrischung. Wortwörtlich. Denn gefilmt wurde vor allem draußen, außerhalb der eingesessenen eigenen vier Wände. Durch Videoprojektionen entstehen auf Häuserwänden, in Straßenecken und auf Litfaßsäulen Szenen, die durch geschickte Montage echte Interaktionen zwischen den Darsteller*innen suggerieren. Durch den optischen Verfremdungseffekt wirken die Menschengestalten, die über die Bildfläche huschen, mal geisterhaft, mal erschreckend lebendig.

Neben den Schauspieler*innen des Oberhausener Ensembles wirkten bei dieser Produktion etwa 60 Bürger*innen aus Oberhausen und Umgebung mit. Einem Aufruf des Theaters folgend, wurden in Video-Konferenzen kurze Ausschnitte produziert, die auf geschlossene Fensterjalousien projiziert als Erzählmomente funktionieren. Alle erzählen die Geschichte mit. Denn alle sind von der Situation betroffen. Damit nimmt sich Bert Zander hier einer Forderung an, die schon seit Jahren laut wird: Partizipation. Auch wenn wir nicht vor Ort im Theatersaal in Oberhausen sein können, so gelingt es durch Aufnahmen Oberhausener Straßen und Häuserreihen und Einbezug der Bürger*innen die Produktion im Digitalen trotzdem räumlich zu verorten.

Am 30.5. wurde die fünfte und letzte Episode hochgeladen. Sie entlässt das Publikum mit Bildern einer Welt, die sich langsam von der Pest erholt, in eine Welt, die sich sehr langsam von Corona erholt. Es sind magische Momente, wenn aus den auf Häuserwände geworfenen Projektionen plötzlich echte Menschen werden, die lebendig aus dem Bild gehen, einen Blick zurück auf ihren verblassenden Schatten werfen und dann verschwinden. Albert Camus‘ Philosophie verlangt nach der Annahme des Absurden, um nach einem Sinn für das Leben suchen zu können. Zander nimmt sich hier der scheinbar absurden Aufgabe an, ein kollektives Theatererlebnis zu schaffen, ohne dass sich Menschen real begegnen können. Und das sehr gelungen, wie ich finde. Gerade diese Produktion wirkt nicht wie ein hilfloses Übergangsprodukt oder eine künstlerische Corona-Beschäftigungstherapie trotz oder gerade durch den Einbezug der Bürger*innen, sondern entpuppt sich als eine ästhetisch innovative Umsetzung unserer aktuellen Lebensrealität.

„Die Pest“ lädt zu einem generellen Innehalten ein. In Episode 2 heißt es gegen Ende: „Ihr habt es verdient. Wenn Euch also heute die Pest anschaut, so deshalb, weil der Augenblick des Nachdenkens gekommen ist.“

https://www.die-pest.de/

Kulissengewisper Takeover

Kurz vor Ende des Sommersemesters wird dieser Blog von sieben Student*innen des Instituts für Medienkultur und Theater übernommen. Im Rahmen der Übung „Kulturquarantäne – analoge Formen im digitalen Raum“ haben sie sich mit kulturellen Angeboten beschäftigt, die in den vergangenen Monaten coronabedingt entstanden oder abstandshaltend neu interessant und zugleich durch die Geschwindigkeit der Entwicklungen zu Momentaufnahmen eines Ausnahmezustands wurden.