Fundstück aus dem Archiv: Provenienz des Buchs Kinrei 金鈴

Autorin: Chantal Weber

Cover des Gedichtbandes

Titelblatt des Bandes

Handschriftliche Widmung

 

 

 

 

 

 

 

 

Bei der Aufnahme eines Buchs aus einer Schenkung in den Bibliotheksbestand der Japanologie gab es eine große Überraschung: Im Gedichtband Kinrei 金鈴 (Goldene Glocke) von Kujō Takeko 九条武子 (1887-1928) aus dem Jahr 1921 fand sich eine handschriftliche Widmung. Dies ist an sich nicht ungewöhnlich und kommt bei geschenkten Büchern manchmal vor, aber die Überraschung lag in der Person, der das Buch gewidmet ist. Mit tei Berurīnaru-sensei 呈ベルリーナル先生 ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Anna Berliner (1888-1977) gemeint.

Anna Berliner

Die promovierte Psychologin lebte mit ihrem Ehemann Siegfried Berliner (1884-1961) Anfang der 1920er Jahren in Japan und hatte zahlreiche Kontakte zu den intellektuellen Kreisen dieser Zeit. Unter JapanologInnen ist sie vor allem als Autorin des ersten Buchs zum japanischen Tee-Weg auf Deutsch, Der Teekult in Japan (1930), und gemeinsam mit ihrem Mann als Leiterin der OAG-Geschäftsstelle in Leipzig zwischen 1925 und 1934 bekannt.

Als eine der wenigen Ausländerinnen jener Zeit beherrschte sie die japanische Sprache, so dass sie mit zahlreichen japanischen Persönlichkeiten Umgang pflegte. So arbeitete sie in der pharmazeutischen Firma von Hoshi Hajime 星一 (1873-1951) sowie bei Mishima Kaiun 三島海雲 (1878-1974), dem Inhaber der Lacto Company, Hersteller von Calpis, als Beraterin und war als Dozentin an verschiedenen Universitäten in Tōkyō tätig. Über ihre Freundschaft mit Nitobe Inazō 新渡戸稲造 (1862-1933), dem Autor des Buchs Bushido – the Soul of Japan (1899), traf sie u. a. viele Frauenaktivistinnen wie beispielsweise Hiratsuka Raichō 平塚らいてう (1886-1971). Auch Kujō Takeko, die Autorin des vorliegenden Bändchens, hat sie wohl persönlich kennengelernt. Ob sie das Exemplar jedoch direkt von dieser erhielt, erscheint unwahrscheinlich, denn die Zeichen in der Widmung verweisen auf eine Person mit dem Namen Moriya oder Moritani Kin 森谷金. Um wen es sich handelt, konnte bisher nicht geklärt werde.

Kujō Takeko

Als gesichert kann jedoch gelten, dass Anna Berliner das Buch tatsächlich gelesen hat. Denn in einem Beitrag aus dem Jahr 1928, „Japanische Frauen von heute“ in dem Buch Frauen jenseits der Ozeane von Margarete Driesch, gibt sie zwei Gedichte aus Kinrei in eigener Übersetzung wieder. Über die Autorin selbst schreibt sie: „Sehr beliebt ist die Dichterin Takeko Kujo, die als schönste Frau Japans gilt.“ (S. 152). Der Gedichtband ist die erste Veröffentlichung von Kujō, die Vorsitzende der buddhistischen Frauenvereinigung (Bukkyō fujinkai 仏教婦人会) war und sich mit der Gründung der Frauenuniversität Kyōto aktiv für die Bildung von Frauen einsetzte. Als Tochter des Abts vom Nishi Hongan-ji in Kyōto konnte sie auch bei ihren caritativen Aktivitäten wie der Einrichtung von temporären Krankenhäusern nach dem Großen Kantō-Erdbeben von 1923 auf die Unterstützung der buddhistischen Gemeinschaft der Jōdo shinshû setzen. Ihr Glaube an Amida Buddha kommt in ihren Gedichten zum Ausdruck, wenn sie über die Einsamkeit und Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens schreibt.

Stempel der Universität Hamburg

Aber wie ist das Buch nun in den Bestand der Kölner Japanologie gelangt? Im Buch findet sich ein Besitzstempel der Universität Hamburg: „Seminar für Sprache und Kultur Japans – Hamburg“. Der erste Lehrstuhlinhaber in Köln Ende der 1970er Jahre war Prof. Dr. Géza Dombrády (1924-2006), der zuvor Professor in Hamburg war. Von dort brachte er viele Bücher nach Köln, da sich das Institut im Aufbau befand und noch keine eigene Bibliothek besaß. Nach vielen Jahren in einer fast vergessenen Ecke des Archivs werden diese „Hamburger Bücher“ nun in den Bibliothekskatalog der Kölner Japanologie aufgenommen.

Wie das Buch in den Besitz der Hamburger Japanologie gelangte, lässt sich ebenfalls nachvollziehen. Als das jüdische Ehepaar Berliner 1938 gezwungenermaßen Deutschland für immer verließ, beauftragten sie ein Umzugsunternehmen, ihren Hausstand aus Leipzig an ihren neuen Wohnort in den USA zu überführen. Der Überseecontainer mit Büchern, Möbeln, Kleidung und Geschirr wurde jedoch in Hamburg von der Gestapo beschlagnahmt. Wie die Akten der Gestapo zum Verkauf des Eigentums des Ehepaar Berliners belegen, wurden japanischsprachige Bücher vom Seminar für Sprache und Kultur Japans der Universität Hamburg ersteigert. Dieses stand seit 1936 unter der Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Gundert (1880-1971), einem erklärten Nationalsozialisten. Während seiner Zeit in Japan als Lektor für deutsche Sprache an verschiedenen Hochschulen und später als Leiter des Japanisch-Deutschen Kulturinstitut in Tōkyō war er mit den Eheleuten Berliner bestens bekannt. Sicherlich wird ihm auch die Überführung der OAG-Geschäftsstelle von Leipzig nach Hamburg 1934 ohne Zustimmung oder Mitspracherecht der Gründer Berliner vom damaligen Vorsitzenden der OAG Tōkyō, Kurt Meissner (1885-1976), nicht entgangen sein. Es ist also anzunehmen, dass Gundert wusste, wessen Besitz er sich da unrechtmäßig aneignete.

Nicht immer lassen sich die Herkunft und Besitzverhältnisse eines Buchs lückenlos rekonstruieren. In diesem Fall jedoch gibt es genügend Anhaltspunkte, um die Provenienz von der Autorin über den Besitz durch Anna Berliner über die Universität Hamburg bis in den Bestand der Kölner Japanologie nachvollziehen zu können, ein Glücksfall.

Das Fundstück:

Kujō, Takeko, Sasaki, Nobutsuna: Kinrei (3-han). Tōkyō: Chikuhakukai 1921.
JAP/L5-8Kuj1

Literatur von Anna Berliner:

Berliner, Anna: „Japanische Frauen von heute“. In: Driesch, Margarete (Hrsg.): Frauen jenseits der Ozeane. Leipzig: Kampmann 1928, S. 143-156.

Berliner, Anna: Der Teekult in Japan. Leipzig: Verlag der „Asia Major“ 1930.

Literatur zu Anna Berliner:

Ball, Laura: „Profil von Anna Berliner“. In: Rutherford, Alexandra (Hrsg.): Psychology’s Feminist Voices Multimedia (abrufbar unter: http://www.feministvoices.com/anna-berliner/Internet).

Rode, Hans K.; Spang, Christian W.: „Anna and Siegfried Berliner“. In: Cho, Joanne Miyang; Roberts, Lee M.; Spang, Christian W. (Hrsg.): Transnational Encounters between Germany and Japan. New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 105-126.

Weber, Chantal: „Anna Berliner and her approach to Japanese culture.” In: WiNEu – Untold Stories: the Women Pioneers of Neuroscience in Europe, 2020 (abrufbar unter: https://wineurope.eu/anna-berliner-and-her-approach-to-japanese-culture/).

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