Wasan oder ob man mit Kanji rechnen kann

Um es gleich vorweg zu sagen: Die japanischen Zahlen in Kanji (chinesische Schriftzeichen) eignen sich kaum zum Rechnen. Deshalb hat man in der Nara-Zeit (710-784) und Heian-Zeit (794-1185) bereits die sogenannten sangi (Rechenhölzchen) aus China eingeführt.

Rechenhölzchen – sangi 算木
In Japan benutzte man zum Rechnen mit sangi häufig ein Raster auf Papier, wo die Hölzchen in die entsprechenden Felder für Zehntausend, Tausend, Hundert, Zehn, Eins gelegt wurden; für die Null wurde dann eine Leerstelle belassen. Die vier Grundrechenarten ließen sich problemlos mit sangi meistern. Außerdem gab es Multiplikationstabellen, die zum Einsatz kamen.

Wenn man die Zahlen aufschreiben wollte, mußte man anfangs zwei Farben bereitstellen: Positive Zahlen wurden in Rot geschrieben und negative Zahlen in Schwarz. Da es jedoch kompliziert war, immer zwei Farben zur Hand zu haben, gab es auch die folgende Schreibweise, bei der für negative Zahlen ein Strich durchgezogen wurde. Die Null wurde später in China eingeführt und sicherlich auch nach Japan überliefert. So wurde die Zahl 231 wie folgt geschrieben  und -407 als  widergegeben.

Der japanische Abakus: soroban 算盤
Gerade für Händler waren die sangi jedoch unpraktisch. Sie benutzen daher einen Abakus, der ebenfalls aus China nach Japan kam. Im 17. Jahrhundert fand dann der japanische Abakus, soroban, der etwas anders als der chinesische gestaltet ist, auch in anderen Bevölkerungsschichten Verbreitung. Bis heute wird der soroban in Japan verwendet; es gibt sogar Wettbewerbe und eine offizielle Soroban-Gesellschaft. Eine einheitliche Form erhielt der soroban im Jahr 1920, davor benutzte man verschiedene Varianten.

Grundsätzlich hat der soroban zwei Teile, die durch einen Steg getrennt sind. Die Kugeln oberhalb des Stegs haben den Wert 5, während die 4 Kugeln unterhalb mit dem Wert 1 belegt sind. Mit einer Festlegung der Einheiten Einer, Zehner, Hunderter, Tausender etc. können mittels des soroban alle Grundrechenarten und auch das Wurzelziehen durchgeführt werden.

Wasan – japanische Mathematik
Erst mit der Edo-Zeit (1603-1868) jedoch entstand eine Abstraktion der Mathematik, die über die praktische Anwendung hinausging. Zahlreiche Rechenprobleme wurden in Publikationen veröffentlicht und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die japanischen Mathematiker standen ihren europäischen Zeitgenossen wie Isaac Newton (1642–1736) oder Gottfried Leibnitz (1646–1716) in keiner Weise nach und befassten sich unter anderem mit der Berechnung von Flächen oder von π.

Verbreitung und Verschwinden des wasan 
Wasan erfuhr durch die Etablierung von privaten Schulen im ganzen Land große Verbreitung. Aber auch die Benutzung von ema-Votivtafeln, auf denen mathematische Probleme und Lösungen in Shintō-Schreinen und buddhistischen Tempeln präsentiert wurden, trugen dazu bei, dass wasan bald zum allgemeinen Wissensgut gehörte. Gleichzeitig erfreuten sich Bücher mit mathematischem Inhalt großer Beliebtheit in der Edo-Zeit, und das Lösen von mathematischen Problemen wurde für viele zu einem Hobby.

Mit der Einführung der westlichen Mathematik in der Meiji-Zeit (1868-1912) und vor allem der Einrichtung eines Mathematik-Unterrichts an Schulen nach westlichem Vorbild verschwand das wasan langsam aus der japanischen Gesellschaft.

Wer mehr erfahren möchte, ist herzlich zu einem Vortrag von Chantal Weber am 27.09.2017, 19 Uhr, im Haus der Geschichte in Bonn bei der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Bonn eingeladen.

Literaturhinweise:
NATIONAL DIET LIBRARY: Japanese Mathematics in the Edo Period; abrufbar unter: http://www.ndl.go.jp/math/e/s1/1.html (letzter Zugriff am: 7.3.2017).

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