„Drinnen – Im Internet sind alle gleich“ – Serienproduktion in Zeiten von Corona

#Takeover #Kulturquarantäne #WebserieDrinnen

Von Sophia Scherhag

Eines der durch die Ausbreitung des Corona-Virus neu entstandenen Medienformate ist die Webserie „Drinnen – Im Internet sind alle gleich“ von ZDFneo. Die Serie reagierte schnell auf die beginnende Pandemie und begleitet diese mit zugespitzten Klischees rund um den Virus: Ob Hamsterkäufe, Corona-bedingter Rassismus oder sich in der Distanz verstärkende Beziehungsprobleme, hier werden alle menschlichen und zwischenmenschlichen Probleme in Verbindung mit Corona aufgegriffen und in den Comedy-Stil der Serie eingearbeitet.

Die erste Folge beginnt mit der Vorstellung der jungen Mutter Charlotte, die ihr Leben in den Griff bekommen möchte, doch – wie auch die Zuschauer zur selben Zeit – durch viele lebenseinschränkende Restriktionen daran gehindert wird. Social Distancing macht sich auch in den Produktionsbedingungen der Serie bemerkbar: Die Hauptfigur ist immer allein in ihrer Wohnung, die Interaktionen, die stattfindet, verlagern sich auf ihre sozialen Netzwerke. Charlotte sitzt also vor allem an ihrem Schreibtisch und kommuniziert, an ihrem Laptop, über das Internet, mit Freunden und Familie. Dank Screencapturekönnen wir Zuschauer*innen verfolgen, wie und mit wem sie interagiert. Und auch hier werden wir wieder mit allzu nachvollziehbaren Alltagserfahrungen gefüttert, wie lästige Zoom-Konferenzen, Fake News auf Social Media und Einsamkeit, die mit einem Swipe auf Tinder in Vergessenheit geraten soll. Über WhatsApp und FaceTime wird kommuniziert, in rasanter Parallelität liefert der Bildschirm immer wieder neue Informationen – was zu absurden Situationen führt: Noch während Charlotte auf Tinder mit anderen Männern schreibt, erreicht sie ein Video-Anruf ihres Mannes, den sie damit beendet, dass sie den Eintrag „Markus über Scheidung informieren“ in ihren virtuellen Kalender einträgt, während sie gleichzeitig nach Corona-Symptomen googelt und befürchtet, ihre Chefin mit dem Virus infiziert zu haben. Ein Corona-Drama im Sekundentakt! Trotzdem – oder gerade weil – hier alles ungefiltert neben- und übereinanderher passiert und kommuniziert wird, kommen wir intensiv mit Charlottes Leben in Berührung. Ihr Stress ist auch unser Stress.

So mit Charlotte identifiziert, an die aufploppenden Tabs auf dem Laptop gewöhnt und bereit, sich auf die schnell einhagelnden Informationen einzulassen, wird die Serie zu guter Unterhaltung und punktet durch Witz und Andersartigkeit.

https://www.zdf.de/serien/drinnen-im-internet-sind-alle-gleich

Ein Lied fürs Leid – Nicolas Stemanns „Corona-Passionsspiele“

#Takeover #Kulturquarantäne #Corona-Passionsspiele

Von Hans Bonhage

Es war die Pest, die 1633 in einem bayerischen Dorf für zahlreiche Todesfälle verantwortlich war, woraufhin die Bewohner*innen schwuren, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen, wenn das Dorf von der Plage befreit würde – so der Gründungsmythos der berühmten Oberammergauer Passionsspiele, die seitdem einmal im Jahrzehnt stattfinden. Knapp 400 Jahre später kämpft die Welt mit der Corona-Pandemie und Nicolas Stemann ist einer von vielen Theaterschaffenden, die in ihrer Auseinandersetzung mit dieser Krankheit Parallelen zu Epidemien der Vergangenheit ziehen. Daraus entstand bei Stemann die Idee zu einem „Corona-Passionsspiel“, das als „virtuelles work-in-progress“ auf die sich rasend schnell ändernden Themen und Diskurse der gegenwärtigen Krise reagiert und diese lustvoll kommentiert.

Seit Ende März werden in kurzen, unregelmäßigen Abständen drei- bis vierminütige (Musik-)Videos veröffentlicht, in denen musical-artig – zwischen Schauspiel, Gesang und Tanz – Corona-Thematiken behandelt werden. Stemann schreibt, komponiert und inszeniert diese Videos in Zusammenarbeit mit der Video­künstlerin Emma Lou Herrmann und dem Ensemble des Schauspielhaus Zürich. Die Videos sind dabei oft voller Ironie und durchzogen von einer Absurdität, wie sie uns allen seit einigen Monaten sehr bekannt vorkommt.  Etwa, wenn in einem Video der Schauspieler Sebastian Rudolph auf einem Platz in Zürich steht und Goethes Osterspaziergang rezitiert, in dem von „des Dorfs Getümmel“ die Rede ist – bevor zum Ende des Videos sichtbar wird, dass er sich allein auf dem ansonsten menschenleeren Platz befindet.

Musikalisch reicht das Spektrum vom Liebeslied über ein Michael-Jackson-Cover bis hin zu einem elektronischen Stück à la Kraftwerk, inhaltlich werden die Clips bestimmt von den öffentlichen Diskursen der vergangenen Wochen und Monate: Es geht zunächst um das Kleinreden des Virus – China ist weit weg, was geht mich das an? –, dann um die Quarantäne, das Allein-Zuhause-Sein, die Omnipräsenz des Internets, Zoom-Probleme, die Sehnsucht nach Gesellschaft, Liebe und Beziehung auf Distanz. Die Viren tauchen als Figuren ebenso auf wie die besonders gefährdeten Großeltern, die Verschwörungstheoretiker*innen auf Anti-Corona-Demos – und Jesus. Die „solidarische“ Unterstützung für Luftfahrt, Automobilindustrie, Fußball-Bundesliga oder Baumärkte findet genauso Erwähnung wie die fehlende Unterstützung für ohnehin schon prekär lebende Künstler*innen. Auch auf visueller Ebene bleiben die Videos abwechslungsreich und vielfältig, die Ästhetiken reichen von einer Found-Footage-Montage bis zum Musikvideo, bei einigen Videos steht eine Narration im Vordergrund, bei anderen die Performance. Dabei gelingt es, Verzweiflung und Hilflosigkeit, die während der Pandemie wohl jede*r an irgendeinem Punkt empfunden hat, humorvoll und höchst unterhaltsam darzustellen.

Zu Beginn der Arbeit am Passionsspiel war noch nicht klar, ob es in der gegenwärtigen Situation je zu einer Aufführung im klassischen Sinne, d.h. auf einer Theaterbühne, kommen würde. So gibt es keine kohärente Handlung, keine übergreifende Dramaturgie. Vielmehr stellen die Videos kleine Versatzstücke dar, die gleichzeitig eine Chronik der Pandemie und eine Chronik der Entstehung einer Theaterarbeit über die Pandemie sind. Als Zuschauer*in kann man den kreativen Schaffensprozess ebenso „live“ mitverfolgen wie die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, die direkte Auswirkungen auf die Produktionsbedingungen haben: Während sich zu Beginn nur einzelne Darsteller*innen in einem Raum befinden und sich selbst filmen, kommt es nach und nach zu mehr menschlichem Kontakt, in den letzten Folgen befinden sich dann bereits mehrere Personen im selben Raum.

Mittlerweile ist es durch die Lockerung der Maßnahmen sogar wieder möglich, Theater auf einer Bühne vor Publikum zu spielen und die Corona-Passionsspiele werden am kommenden Wochenende (26.06. und 27.06.) in Zürich aufgeführt. Es wäre sicher spannend, zu sehen, welche Formen und Inhalte es aus den Videos auf die Bühne schaffen. Aber dieses Videotagebuch der Corona-Passionsspiele sei auch allen, die nicht die Möglichkeit haben, für die Aufführung nach Zürich zu fahren, ans Herz gelegt, weil es das absurde, ironische, kreative Potential des Theaters feiert. Die „Corona-Passionsspiele“ finden ein analoges Happy (?) End – übrigens ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Oberammergauer Passionsspiele coronabedingt ausfallen müssen.

https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18106/corona-passionsspiel

„Die Pest“ 2020 – Der Augenblick des Nachdenkens

#Takeover #Kulturquarantäne #DiePest

von Helena Baur

Wie viele andere präsentiert sich auch das Theater Oberhausen nicht untätig in Zeiten von Corona und lädt mit der Miniserie „Die Pest“ zu einer fast schon historisch anmutenden Reflexion der aktuellen Situation ein. Aber so sehr es auch um die globale Pandemie zu gehen scheint, so kommt doch an keiner einzigen Stelle das Wort „Corona“ vor – und vielleicht macht gerade das den Charme dieses Formats aus …

„Die Idee zu diesem Projekt entstand nach der Schließung der Theater Ende März 2020. Die Beteiligten haben sich nie getroffen.“

„Die Pest“ ist eine Miniserie des für sein filmisches Interesse bekannten Regisseurs Bert Zander auf Grundlage des gleichnamigen Textes von Albert Camus. Die Episoden wurden nacheinander jeden Samstag im Mai in der 3sat-Mediathek zur Verfügung gestellt und sind dort noch bis November abrufbar. Verglichen mit den bei digitalen Theaterproduktionen oft angetroffenen „für 24 Stunden verfügbar“ findet damit hier keine digitale Nachahmung der Flüchtigkeit des Theatererlebnisses statt. Dies ist nur einer der Aspekte, der „Die Pest“ von der Flut kurzfristiger Corona-Theaterkunst im Netz hervorhebt.

Inhaltlich wurde in das Gerüst, das durch Camus‘ Textvorlage besteht, kaum eingegriffen. Die Figuren berichten von toten Ratten, Mutmaßungen über den Ausbruch der Pest, toten Menschen, Ausgangsbeschränkungen und der Suche nach einem Impfstoff. Familien können bei den Beerdigungen ihrer Verwandten nicht dabei sein, Liebende sind durch Abriegelung der Grenzen voneinander getrennt, Menschen verlangen nach Nähe – und wer jetzt gedanklich noch bei der Pest ist, muss wohl seit einigen Monaten auf einer einsamen Insel gelebt haben. Die Pest ist sicher nicht gleichzusetzen mit der aktuellen Covid19-Pandemie, doch ist es geradezu unheimlich, wie sehr einzelne Sätze exakt in unsere gegenwärtige Lebenswelt übertragbar sind. „Die Pest“ muss sich um Aktualitätsbezüge keine Sorgen machen – wenn man hier Camus‘ Worte hört, ist der Realitätsbezug so stark, dass man mehr hineinliest als das, was eigentlich ausgesagt wird.

Die Ästhetik treibt die gegenwärtigen, unter Umständen geisterhaften Zustände innovativ auf die Spitze. Wer das eine oder andere digitale Theaterprojekt der vergangenen Wochen verfolgt hat, ist vermutlich auch Zeuge verschiedener Split-Screen-Optiken geworden. Dessen mittlerweile zunehmend überdrüssig, ist das, was Bert Zander hier inszeniert, für das „ausgeZOOMte“ Publikum eine Erfrischung. Wortwörtlich. Denn gefilmt wurde vor allem draußen, außerhalb der eingesessenen eigenen vier Wände. Durch Videoprojektionen entstehen auf Häuserwänden, in Straßenecken und auf Litfaßsäulen Szenen, die durch geschickte Montage echte Interaktionen zwischen den Darsteller*innen suggerieren. Durch den optischen Verfremdungseffekt wirken die Menschengestalten, die über die Bildfläche huschen, mal geisterhaft, mal erschreckend lebendig.

Neben den Schauspieler*innen des Oberhausener Ensembles wirkten bei dieser Produktion etwa 60 Bürger*innen aus Oberhausen und Umgebung mit. Einem Aufruf des Theaters folgend, wurden in Video-Konferenzen kurze Ausschnitte produziert, die auf geschlossene Fensterjalousien projiziert als Erzählmomente funktionieren. Alle erzählen die Geschichte mit. Denn alle sind von der Situation betroffen. Damit nimmt sich Bert Zander hier einer Forderung an, die schon seit Jahren laut wird: Partizipation. Auch wenn wir nicht vor Ort im Theatersaal in Oberhausen sein können, so gelingt es durch Aufnahmen Oberhausener Straßen und Häuserreihen und Einbezug der Bürger*innen die Produktion im Digitalen trotzdem räumlich zu verorten.

Am 30.5. wurde die fünfte und letzte Episode hochgeladen. Sie entlässt das Publikum mit Bildern einer Welt, die sich langsam von der Pest erholt, in eine Welt, die sich sehr langsam von Corona erholt. Es sind magische Momente, wenn aus den auf Häuserwände geworfenen Projektionen plötzlich echte Menschen werden, die lebendig aus dem Bild gehen, einen Blick zurück auf ihren verblassenden Schatten werfen und dann verschwinden. Albert Camus‘ Philosophie verlangt nach der Annahme des Absurden, um nach einem Sinn für das Leben suchen zu können. Zander nimmt sich hier der scheinbar absurden Aufgabe an, ein kollektives Theatererlebnis zu schaffen, ohne dass sich Menschen real begegnen können. Und das sehr gelungen, wie ich finde. Gerade diese Produktion wirkt nicht wie ein hilfloses Übergangsprodukt oder eine künstlerische Corona-Beschäftigungstherapie trotz oder gerade durch den Einbezug der Bürger*innen, sondern entpuppt sich als eine ästhetisch innovative Umsetzung unserer aktuellen Lebensrealität.

„Die Pest“ lädt zu einem generellen Innehalten ein. In Episode 2 heißt es gegen Ende: „Ihr habt es verdient. Wenn Euch also heute die Pest anschaut, so deshalb, weil der Augenblick des Nachdenkens gekommen ist.“

https://www.die-pest.de/

Kulissengewisper Takeover

Kurz vor Ende des Sommersemesters wird dieser Blog von sieben Student*innen des Instituts für Medienkultur und Theater übernommen. Im Rahmen der Übung „Kulturquarantäne – analoge Formen im digitalen Raum“ haben sie sich mit kulturellen Angeboten beschäftigt, die in den vergangenen Monaten coronabedingt entstanden oder abstandshaltend neu interessant und zugleich durch die Geschwindigkeit der Entwicklungen zu Momentaufnahmen eines Ausnahmezustands wurden.