
DimiTalen, CC0, via Wikimedia Commons
Kirschblüten und Japan gehören zwar zusammen, erscheinen aber nicht unbedingt als ein Thema, das weitergehender japanologischer Betrachtung bedarf. Was können uns schon ein paar rosa Blüten über die Kultur oder Geschichte eines ganzen Landes sagen? Schaut man genau hin, gibt es aber sehr wohl viele spannende Blickwinkel auf dieses alljährliche Phänomen.
Botanisch gesehen bezieht sich sakura 桜 auf den Kirschbaum. Die bekannteste Unterart ist die Somei Yoshino, die für ihre zarten, rosafarbenen Blüten berühmt ist. Die Blütezeit variiert je nach Region und Sorte, aber sie beginnt in der Regel zwischen Ende März und Anfang April und dauert nur wenige Tage bis Wochen. Zahlreiche weitere Sorten erfreuen sich großer Beliebtheit, Guides erläutern, wann welche Blüten betrachtet werden können.
Da ist es verwunderlich, dass es nicht die heute so eng mit Japans Jahreszeiten verbundene Kirschblüte war, die den Ursprung der alten Tradition darstellt: Bis in die Heian-Zeit stand stattdessen die ume 梅 (Pflaume) und ihre Blüte im Vordergrund der kulturellen Würdigung in Gedichten und anderen Kunstwerken. Diese erfreut sich bis heute gemeinsam mit Kiefer und Bambus als glückverheißendes Trio shōchikubai 松竹梅 zum neuen Jahr großer Beliebtheit. Die Assoziation zwischen Sakura und dem beginnenden Frühling ist aber mittlerweile die stärker verbreitete. Und was mit Gedichten der Adligen über die Schönheit und Vergänglichkeit der Blüten begann, wird bis heute beispielsweise in einer großen Zahl von Popsongs fortgeführt. Passenderweise ist der Frühling in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Veränderungen, die die Songtexte aufgreifen: Das neue Schul- und Unijahr startet und mit dem neuen Fiskaljahr beginnen zahlreiche Arbeitsverträge ebenfalls im April jeden Jahres.

Reservierungen für das Firmen-hanami am Abend – whity, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Bäume der Sorten Somei Yoshino, Yamazakura und Shidarezakura schmücken noch immer in dieser Jahreszeit das Stadtbild, aber insbesondere auch Parks und andere öffentliche Grünflächen. Im heutigen Japan sind diese hanami 花見 (Blütenschauen) oft von Freunden, Familie oder Firma organisiert: Man trifft sich beispielsweise im Park, in dem teilweise schon in aller Frühe ein schönes Fleckchen durch das Auslegen der omnipräsenten blue sheets reserviert wurde. Teilweise wird sogar Campingmobiliar in den Park verfrachtet, um den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.
Gegessen werden meistens Picknick-kompatible Speisen wie bentô-Boxen, Sandwiches, onigiri おにぎりoder – wie der Name schon andeutet – hanami dango 花見団子, also gedämpfte Klöße aus Reismehl in frühlingshaften Farben. Diese können selbstgemacht sein, oft bringen jedoch die Beteiligten auch einfach etwas aus dem saisonalen Angebot der umliegenden Supermärkte mit. Das Getränkeangebot ist breit und für erwachsene Teilnehmende oft alkoholisch.

hanami dango – Maakun at the Japanese language Wikipedia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Auch wenn sich zu späterer Stunde der Alkoholpegel der Feiernden in der Lautstärke zeigt, sind die Parks sehr um ein gewisses Maß an Ordnung bemüht. Sie stellen zusätzliche Abfallsammelstellen und Toiletten zur Verfügung und entsenden ihre Angestellten, um die Parkregeln durchzusetzen. Diese unterscheiden sich je nach Ort, oft heißt es jedoch: Keine Grills und bitte nicht auf die Bäume klettern oder Zweige abreißen.
Die Forderung nach einem respektvollen Umgang mit der Natur wurde in den letzten Jahren umso lauter, je größer die Aufmerksamkeit für ein weiteres Thema wurde. Viele der Sakura-Bäume leiden an Überalterung, müssen gefällt oder durch weitreichende Maßnahmen gesund erhalten werden. Während einige Wildformen über tausend Jahre alt werden können, wie Jindai-Zakura in Yamanashi, sind die gezüchteten Bäume an populären hanami-Orten mit 70 bis 80 Jahren in einem Alter, in dem sie nur noch wenig blühen und mit Krankheiten kämpfen. Projekte wie das dieses Jahr vorgestellte Sakura AI Camera bemühen sich hierbei um ein aktives Monitoring des Gesundheitszustandes von Bäumen.
Über die reine Betrachtung der Festlichkeiten und Bäumen hinaus ist die Zeit der Kirschblüte auch in vielerlei anderer Hinsicht interessant. Ein Beispiel ist die Wirtschaftsmacht, die ihr zugeschrieben wird. In Analysen aus dem Jahr 2024 rechnet man mit 1,39 Billionen Yen. Spannend ist hier, welche Einnahmebereiche mit einbezogen wurden: Zum einen sind das selbstverständlich die beim Hanami verzehrten Speisen und Getränke, die dem Lebensmitteleinzelhandel, aber auch Restaurants und Cafés mit Liefer- oder Mitnahme-Angeboten Sonderumsatz bescheren.

ume-y, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Darüber hinaus gibt es aber noch eine weitere Herangehensweise, diese spezielle Saison finanziell zu nutzen. Viele Hersteller setzen auf die Attraktivität von kikan gentei 期間限定-Produkten, also zeitlich, z.T. auch zahlenmäßig begrenzt verfügbare Sonderversionen. Während die Klassiker sicherlich die schlicht mit Sakura-Designs dekorierten Bierdosen der großen Brauereien sind, entwerfen andere Produkte, die tatsächlich Sakura oder Kirschen, mindestens aber ein zartes Kirschblütenrosa enthalten. Über den Lebensmittelmarkt hinaus werden Duft und Farbe gerne genutzt. Sei es ein spezielles Parfum einer internationalen Marke, eine Disney-Sonderkollektion oder schlicht Waschmittel oder WC-Lufterfrischer aus der Drogerie nebenan, der Produktentwicklungsfantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Zudem nutzt die Tourismusbranche diese Zeit des Frühlingsbeginns. Feste, aber auch Touren hin zu besonders schönen Hanami-Locations werden in speziellen saisonalen Magazinen vorgestellt und zur Buchung angeboten. Durch Stadtflucht oder Naturkatastrophen betroffene Gebiete setzen ebenfalls auf die Anziehungskraft ihrer Natur. So entsteht beispielsweise in Iwaki im Zuge des Iwaki Manbonzakura Project ein ganzer Sakura-Hain in Erinnerung an die Dreifachkatastrophe von 2011.
Auch internationale Japanreisende haben den Frühling als gute Zeit für einen Besuch erkannt, neben dem angenehmeren Wetter verglichen mit der Sommerzeit eben nicht zuletzt der Kirschblüte wegen. Laut der eingangs zitierten Studie sind sie aktuell für über ein Viertel der Sakura zugeschriebenen Einnahmen verantwortlich – Tendenz steigend. Sie investieren neben Reisekosten auch in saisonale Souvenirs, die wiederum die Assoziation des Landes mit den Blüten stärken.

Sakura in der Heerstraße in Bonn – Spielvogel, CC0, via Wikimedia Commons
Sakura wurden sogar zum Gegenstand internationaler Diplomatie – so schenkten beispielsweise japanische Offizielle in Washington oder Düsseldorf den Städten Kirschbäume aus Japan und viele der Bäume in Köln sind Geschenke der Partnerstadt Kyôto. Auch Privatleute und Hobbygärtner finden Gefallen an den Blüten, weswegen es mittlerweile ganze Guides der schönsten Orte zur Kirschblüte im eigenen Land gibt. In NRW veranstaltete beispielsweise die Stadt Bonn lange Zeit ihr Kirschblütenfest und sperrt heute noch Straßen, um dem Besucherandrang Raum zu schaffen. Die Tradition des klassischen, privaten Hanami mit Speisen und Getränken scheint hierbei trotz der Präsenz der Pflanzen in öffentlichen Parks weitestgehend unbekannt zu sein. Sakura funktionieren aber trotzdem bereits gut als Teil der Softpower Japans, denn von traditioneller Kultur bis hin zum Cosplay-Photoshoot werden zahlreiche positive Bezüge zum Land hergestellt.