Gibt es in Japan Weihnachten überhaupt? Was macht man da am 24. oder über die Feiertage? Japanolog*innen und Japaninteressierte hören diese Fragen, wenn sie an Weihnachten Freunde oder Familie treffen oder wenn sie sich in dieser Zeit in Japan befinden. Und während sich Antworten und Erwartungen sicherlich nach Ort und persönlichem Umfeld unterscheiden, gibt es dennoch einige breitere gesellschaftliche Entwicklungen, die einen genaueren Blick wert sind.
Das Christentum kam bereits im 16. Jahrhundert nach Japan. Ein von religiösen Aspekten losgelöstes Interesse an Weihnachten entstand aber erst in der Meiji-Zeit (1868-1912): Feierliche Dekorationen wurden als erstrebenswert modern, aber auch schlichtweg verkaufsfördernd angesehen. Ein Unternehmen, das diesen Trend erfolgreich nutzte, war Fujiya 不二家 in Yokohama, ein Lebensmittelhersteller, der für seine Konditorei und Süßigkeiten bekannt ist. Fujii Rin’emon 藤井林右衛門 (1885-1968) führte 1910, im Jahr der Geschäftsgründung, den für den Anlass festlich dekorierten „Christmas Cake“ ein. Diese frühe Form wurde als fruitcake beschrieben, was eine ursprüngliche Orientierung an britischen Weihnachtstraditionen nahelegt.
Seine finale Form als Strawberry Shortcake erlangte der „Christmas Cake“ aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier erfüllte die festliche Torte ihre Funktion als feierliche Speise, die für einen westlichen, amerikanischen Lifestyle und gleichzeitig auch für die wachsenden finanziellen Möglichkeiten eines Landes im Wirtschaftsboom stand. Die Kulturanthropologin Millie Creighton beschreibt sie 1991 als Mitbringsel des Vaters zu Weihnachten, über das sich die Familie und insbesondere die Kinder freuen.
Heute ist der Strawberry Shortcake nicht nur als Emoji 🍰 weltweit präsent, sondern scheint in Japan von einer breiten Mehrheit auch außerhalb der Familie mit Weihnachten assoziiert zu werden. So wirbt Fujiya aktuell nicht nur mit ganzen Torten und Kuchen, teilweise in Kollaboration mit Prominenten wie der Boyband Snow Man, sondern widmet auch eine Kategorie kleinen, weihnachtlichen Törtchen für eine einzelne Person mit dem Motto: Kotoshi no jibun wo homechaô 今年のじぶんをほめちゃおう! Lobe dich dieses Jahr selbst!
Und wie spiegelt sich Weihnachten im japanischen Stadtbild wider? Ist Halloween vorüber, erscheint in Großstädten wie Tôkyô schnell die nächste saisonale Deko. Am auffälligsten ist hierbei sicherlich die Beleuchtung, iruminêshon イルミネーションgenannt.
Diese kann sowohl privat und im Kleinen als auch beispielsweise durch lokale Einzelhandelsverbände zentral organisiert sein. So werden dann ganze Straßenzüge erhellt und zur Sehenswürdigkeit, ganz wie zur Kirschblüten- oder Herbstlaub-Zeit. Beliebt, und durch Videowalk-Youtuber auch für ein Publikum in aller Welt zugänglich gemacht, sind beispielsweise die Lichterinstallationen in Midtown.
Weihnachtsmärkte sind ebenfalls zunehmend Teil des Stadtbilds. Einige kleinere, wie beispielsweise der Markt in Roppongi oder in Midtown, sind kostenlos – für die wirklich großen, aufwändigen zahlt man aber meist Eintritt.
Ein wenig anders ist auch das Angebot vor Ort. Klassiker wie Glühwein oder heiße Schokolade gibt es zwar, allerdings finden sich beispielsweise in Jingûmae auch viel traditionelle deutsche Küche und Bier. Nicht weiter verwunderlich, werden viele der Stände doch von deutschen Biermarken betrieben. Aus deutscher Sicht ungewohnt ist die aufwändige Präsentation der Gerichte und Getränke mit Weihnachtsmotiven.
Auch abseits der Märkte gibt es einige Besonderheiten bezüglich des Weihnachtsmenüs. Besonders auffällig ist die Präsenz der Fastfood-Kette KFC. Während die Hintergründe der Idee unklar sind, bewirbt die Firma seit 1973 ein spezielles, komplettes Weihnachtsmenü mit ihrem Fried Chicken, Beilagen und Dessert. Egal, ob ihr Ursprung ausländische Menschen auf der Suche nach einem Ersatz für einen US-Weihnachtstruthahn waren oder die begeisterte Reaktion von Kindern auf den verkleideten KFC-Lieferanten, die Werbung ist in der Weihnachtszeit omnipräsent und empfiehlt nachdrücklich eine Vorab-Reservierung des „Christmas Bucket“. Immer untermalt von einem Weihnachtssong von Takeuchi Mariya, sieht man hier einerseits Familien, aber auch Paare oder Freundesgruppen, die ihre Bestellung abholen, um dann zu Hause das Fest mit Fastfood zu begehen.
Die Assoziation von Weihnachten mit frittiertem Hähnchen haben sich mittlerweile auch andere Fastfood-Ketten sowie die Supermärkte und konbini zunutze gemacht. Pizza-Lieferdienste schickten sich in den letzten Jahren ebenfalls an, Weihnachtspartys zu versorgen.
Ein weiterer kommerzieller Aspekt des Festes sind die Geschenke: Hier werden Kinder, aber auch Partner oder Freunde bedacht. In Zeiten gestiegener Lebenshaltungskosten planen Eltern dieses Jahr im Schnitt dafür Ausgaben von ca. 5.600 Yen pro Kind ein. Interessant ist, dass den Umfragen zufolge auch Geldgeschenke von Eltern an Kinder gemacht werden. Dies erinnert an o-toshidama お年玉, Geldgeschenke an Kinder, die traditionell zu Neujahr üblich sind.
Die Tage „zwischen den Jahren“ gehen in Deutschland oft nahtlos in Silvester und Neujahr über. Große Familienbesuche, wie sie hier in dieser Zeit stattfinden, sind in Japan aber häufig erst in den Neujahrstagen geplant. Diese Zeit funktioniert laut Creighton auch als traditioneller Gegenpol zum „importierten“ Weihnachten. Nach dem Fest wird der Schmuck zum 26.12. eilig durch Neujahrsdekorationen ersetzt, um alles rechtzeitig für das neue Jahr vorzubereiten – kurzfristige Deko-Aktionen am 31. sind verpönt. Weihnachtssnacks und -süßigkeiten in den Supermärkten weichen dem kagami mochi 鏡餅, einem Stapel aus zwei oder drei Reiskuchen mit einer Dekoration wie zum Beispiel einer kleinen Bitterorange obendrauf.
Sind alle Vorbereitungen wie der große Hausputz, das Schmücken des Eingangsbereichs mit Kiefernzweigen kadomatsu 門松, dem Aufstellen von kagami mochi und die Vorbereitung der Neujahrsspeisen o-sechi ryôri お節料理 geschehen, beginnt eine überaus ruhige Zeit, die viele im Land zu Hause mit der Familie verbringen. Silvesterpartys mit großem Countdown und Feuerwerk sind kaum zu finden.
Es wird ferngesehen oder an Neujahr auch gespielt, traditionelle Spielzeuge wie Kreisel oder hanetsuki 羽根つき, ein japanisches Federballspiel, sind weiterhin mit der Vorstellung von Neujahr verbunden. Haben Fastfood-Anbieter Weihnachten für sich in Beschlag genommen, wird zur Feier des neuen Jahres oft o-sechi ryôri gereicht. Auch diese kleinen, nur zeitaufwändig zuzubereitenden Speisen lassen sich in mehrstöckigen, lackierten Boxen im Kaufhaus oder Supermarkt vorbestellen. Schneller zubereitet sind die extralangen toshikoshi soba-Nudeln 年越し蕎麦. So gestärkt machen sich viele direkt nach Mitternacht am Neujahrstag, spätestens aber in den folgenden Tagen auf den Weg zum hatsumôde 初詣, dem ersten Schreinbesuch des neuen Jahres. Am Morgen des 1. Januar erwarten sie zudem die Neujahrs-Postkarten von Freunden und Bekannten.
Letztendlich macht die breite Vielfalt der Formen, wie Weihnachten und Neujahr in Japan verbracht werden, es unmöglich, alles in einem kurzen Blogpost abzubilden. Interessant wäre es zu untersuchen, wie Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen, mit divergenten Lebensentwürfen und aus verschiedenen Generationen diese Tage verbringen und bewerten. Nicht zuletzt ist auch die zunehmende touristische oder langfristige Präsenz von Menschen aus aller Welt ein Faktor, der zweifellos zukünftig das Begehen dieser Feste beeinflussen wird.
Creighton, Millie R.: „Maintaining Cultural Boundaries in Retailing: How Japanese Department Stores Domesticate Things Foreign“. In: Modern Asian Studies 25 (04) (1991), S. 675-709. doi:10.1017/S0026749X00010805