Nostalgie für Galapagos-Technologie? Die Geschichte des Handys in Japan

Nicht wenige Menschen sehnen sich angesichts der Informations- und Benachrichtigungsflut, die aktuelle Smartphones mit sich bringen, scheinbar nach einem simpleren Mobilfunkzeitalter. Damals, als man mit dem Handy telefonieren, SMS schreiben und einfache Spiele spielen konnte, war eigentlich alles abgedeckt, was man wirklich braucht, so das Credo. Aber geht es wirklich um reduzierte Funktionen oder spielt der Nostalgiefaktor eine viel größere Rolle?

Eine spannende Perspektive auf dieses Thema kann der Blick nach Japan bieten. Denn während in Europa in den 1990ern und frühen 2000ern 160 Zeichen verschickt oder Wartezeit mit einem minimalen Spiel wie Snake überbrückt wurde, ging das portable Angebot in Japan bereits von E-Mail und Aktienhandel bis zur Wettervorhersage: internetbasierte Anwendungen, die den breiten Markt in vielen anderen Ländern erst mit der Einführung des Smartphones erreichten. Nicht umsonst bekamen Geräte für den japanischen Markt den Spitznamen “gara-kei ガラ携, kurz für Galapagos und keitai 携帯電話 (Mobiltelefon), wurden also mit den abgeschiedenen Galapagos-Inseln und ihren einzigartigen Evolutionen assoziiert.

Aber wie konnte sich dort ein solches Angebot entwickeln und wie sähe heute ein “Nostalgie-Handy” für japanische Nutzende aus?

Generationen von japanischen Mobiltelefonen

Marus, Public domain, via Wikimedia Commons

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entwicklung mobiler Endgeräte in Japan. Die technischen Anfänge der frei verfügbaren Mobiltelefone unterscheiden sich hierbei nicht allzu sehr von den deutschen: Hüben wie drüben gab es zunächst Autotelefone, die so schwer und teuer waren, dass sie nur im professionellen Bereich Einsatz fanden.

Schnell kamen in Japan kleine Pager hinzu, die man auch hierzulande für die Rufbereitschaft kennt. Klingelte der Pager, musste die angezeigte Nummer von einer der zahlreichen Telefonzellen aus zurückgerufen werden. Bereits hier gab es aber findige Köpfe, die anstelle regulärer Telefonnummern Textnachrichten verschickten, indem sie sich Wortspiele nach dem Prinzip des goroawase  語呂合わせzu Nutze machten.

Als 1993 der 2G-Mobilfunk eingeführt wurde, begann die Zeit des PHS (Personal Handyphone System) sowie des PDC (Personal Digital Cellular). Mobile Telefonie wurde langsam günstiger. Insbesondere der 1994 eingeführte PHS-Standard bot zwar nur eine geringe Reichweite, zeichnete sich aber durch seine Preispolitik, kleine Endgeräte und lange Batterielebensdauer aus. Teilweise wurden die Geräte fast verschenkt, um neue Nutzer zu gewinnen, auch viele Jugendliche wechselten vom günstigen Pager zum PHS.

PDC war anfangs noch sehr teuer, allerdings arbeitete man auch hier unter dem Wettbewerbsdruck durch PHS an einer Kostensenkung. Als im Jahr 1996 die Aktivierungskosten wegfielen und die Geräte nicht mehr gegen eine Kaution vermietet, sondern verkauft wurden, konnte sich dieser höhere Standard endgültig durchsetzen. NTT docomo festigte  so seine Position als Marktführer und begann mit dem weiteren Ausbau der Netze.

Dieser legte den Grundstein für die Einführung des neuen Services i-mode im Jahr 1999, der in Japan den Schritt vom Telefon zum Alleskönner vorgriff, den andere Regionen erst zehn Jahre später durch das Smartphone erfahren würden.

docomo-Spot zur Einführung von i-mode

Da der Markt für Telefonie weiterhin stark umkämpft und darüber hinaus weitestgehend gesättigt war, suchte man nach einem neuen Businessmodell. Der PDC-Standard bot neben Sprachkommunikation auch effektive Datenübertragungsmöglichkeiten. Eine volumenbasierte Abrechnung der Datennutzung machte das Netzwerk für Services wie Push-E-Mail attraktiv. Günstiges, plattformübergreifendes Messaging, das anfangs pro Nachricht bis zu 250 Zeichen erlaubte, war nun möglich und entwickelte sich direkt nach seiner Einführung im Jahr 1999 zum größten Verkaufsargument von i-mode. Zudem fungierte das System als Plattform für Informationsservices, indem von externen Content-Anbietern auf die technischen Beschränkungen der Endgeräte angepasste Seiten ins i-mode-Netzwerk eingestellt werden konnten. Die Preise für die Services waren auf 300 Yen pro Monat beschränkt.

Andere Anbieter zogen nach und führten eigene, ähnlich aufgebaute Plattformen ein. So entwickelte sich das Handyinternet in Japan – weitestgehend abgeschottet vom weltweiten Netz, aber funktional vielfältig ausgestattet und mit breiter Nutzerschaft. Ob persönlicher Blog, Wetterbericht oder Online-Shopping, all das war nun bereits möglich.

Handy-TV 1seg

ピカピカプー, Public domain, via Wikimedia Commons

Netzausbau und technische Weiterentwicklung brachten im Laufe der 00er Jahre neue Services mit sich: Farbdisplays und ins Gerät eingebaute Kameras (2000), GPS und Standortservices wie Navigation (2001), QR-Code Reader (2003), elektronische Zahlungssysteme (2004) sowie sogar Digitalfernsehen (2006, siehe links).

Der nächste technische Schritt zu 3G-Netzwerken wurde zwar stark beworben, allerdings nur zögerlich angenommen. Neue Funktionen wie Videotelefonie konnten teure neue Endgeräte mit schlechteren Batterielaufzeiten einfach nicht ausgleichen. Das von Matsunaga Mari, einer der Entwicklerinnen, „convenience store concept“ genannte i-mode-Plattformkonzept bot bereits genügend Auswahl und Anpassungsmöglichkeiten, um die Nutzenden zufriedenzustellen. In dieser Situation schoben viele den Kauf eines neuen Gerätes länger hinaus als zuvor. Dies änderte sich erst wieder, als Smartphones wie Blackberry und iPhone für frischen Wind in der Branche sorgten.

Das iPhone wurde erstmals im Juli 2008 von Softbank angeboten. Berichten zufolge war der Andrang zu Beginn stark, allerdings störten der hohe Preis sowie fehlende, zuvor alltägliche Funktionen und Services wie emoji oder die beschriebene i-mode-Kompatibilität dieses erste positive Bild und schwächten die Verkäufe ab. Erst als Zugeständnisse an die japanische Nutzerschaft gemacht wurden, brachte dies wirkliche Erfolge.

Während Smartphones auch in Japan heute das Bild dominieren, bieten alle großen Mobilfunkanbieter weiterhin gara-kei-Modelle an. Das Marketing scheint sich mit einem Fokus auf Einfachheit und Sicherheit insbesondere an Senior*innen oder Kinder zu richten – wer die Geräte letztendlich nutzt, bleibt aber unklar.

Offensichtlich ist, dass die Nische weiterhin existiert und in gewissem Maße ihre Eigenständigkeit gewahrt hat, wenn auch die aktuellen Geräte inzwischen auf Android- oder, seltener, KaiOS-Basis funktionieren und mit 4G-Mobilfunk, sowie WLAN-Funktionalität ausgestattet sind. Somit wirken sie äußerlich zwar wie gara-kei-Relikte und können auch so genutzt werden, rein technisch gesehen sind aber auch sie bereits Smartphones. Manche Anbieter führen sie daher unter der neuen Bezeichnung garaho ガラホ, einer Kombination aus gara-kei und Smartphone.
Auch die mobilen Internetservices, die Japan zu seiner eigenen Entwicklung verhalfen, werden auf den neuen Geräten durch Apps ersetzt. Während KDDI bereits 2022 mit der Abschaltung begonnen hat, plant docomo das Ende des 3G-Netzwerks und somit auch seiner i-mode-Angebote für das Jahr 2026.

Welche Rolle bei der Weiterexistenz dieser scheinbaren Smartphone-Vorgänger die Nostalgie spielt und inwiefern diese aufgrund unterschiedlicher Erwartungen und Erinnerungen anders funktioniert als beispielsweise in Deutschland, wäre einen genaueren Blick wert.

Werbespot von docomo zum i-mode-Ende 2026

Lektüreempfehlung (verfügbar im Sofortausleihbereich der Kölner USB-Hauptbibliothek):

Ito, Mizuko; Okabe, Daisuke; Matsuda, Misa (Hrsg.): Personal, Portable, Pedestrian. Cambridge: The MIT Press 2005.

 

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