Wer die japanische Twitch- und YouTube-Landschaft verfolgt, dem ist vielleicht aufgefallen, dass gerade jetzt im Sommer vermehrt gruseliger Content dort zu finden ist. Auch das für den japanischen Sommer typische Zirpen der Zikaden oder ein anstehendes Feuerwerk gibt in manch einem Anime oder Videospiel bereits einen Ausblick auf das Thema, das einen hier erwartet – denn anders als im Westen, gehen in Japan die Geister im Sommer umher.
Bereits seit dem Jahr 606 soll das sogenannte O-bon-Fest お盆, das Toten- oder Allerseelenfest, in Japan gefeiert werden. Damals noch nach dem Mondkalender am 15. Tag des siebten Monats, wird es heute je nach Region zu unterschiedlichen Zeiten, teilweise auch mehrfach, gefeiert und entsprechend Juli-, August- oder altes Bon (shichigatsubon 七月盆, hachigatsubon 八月盆 oder kyûbon 旧盆) genannt. Im Grunde handelt es sich bei O-bon um ein buddhistisches Totenfest, das sich vermutlich mit Traditionen und Glaubensvorstellungen, die bereits vor dessen Einführung bestanden hatten, vermischt hat. Insbesondere der Glaube, dass die Seelen der Verstorbenen aus dem Jenseits ano yo あの世 in das Diesseits kono yo この世zurückkehren und die berühmtem Bon-Tänze (bon odori 盆踊り) lassen sich nämlich nur schwerlich durch den Buddhismus erklären und sind in Indien, China oder Korea nicht zu finden.
Die buddhistischen Ursprünge des Fests selbst werden zumeist durch eine Legende um den Mönch Mokuren 目蓮 begründet. Als dieser nämlich seine Mutter in einer Vision in der Hölle der hungrigen Geister gakidô 餓鬼道 erblickte, soll er von Buddha Shakamuni zu ihrer Rettung angewiesen worden sein, am 15. Tag des siebten Monats Speisen für die verstorbenen Ahnen zuzubereiten und sie den Mönchen zu geben, wenn sie aus ihrem dreimonatigen Rückzug zurückkehrten, auf dass sie zur Tröstung der gequälten Seelen die Urabon’e-Zeremonie 盂蘭盆会 durchführen. Aus Freude über ihre Rettung soll Mokuren dann getanzt und so auch die Bon-Tänze ins Leben gerufen haben.
Obwohl O-bon besonders intensiv von Familien begangen wird, in denen es im vergangenen Jahr einen Trauerfall gegeben hat, gilt es ganz allgemein als ein Familienfest und jedes Jahr sind die Reisewellen der in die Heimat Zurückkehrenden um die Zeit vom 13. bis 16. August in den Nachrichten zu verfolgen. Denn obwohl es kein nationaler Feiertag ist, schließen einige Firmen an diesen Tagen und stellen ihre Angestellten frei, damit sie in die Heimat fahren können, um das Fest gemeinsam mit der Familie zu begehen und sich um die Gräber der Verstorbenen zu kümmern.
Wie bereits erwähnt, gehen verschiedenen O-bon-Sitten auf traditionelles japanisches Brauchtum zurück und ranken sich insbesondere um die Reise der Seelen in die diesseitige Welt. Um ihnen diese Reise zu erleichtern, stellen viele japanische Familien ein „Seelenpferd” shôryô uma 精霊馬 auf, auf dem die verstorbenen Angehörigen möglichst schnell in das Diesseits reiten sollen. Für die Rückreise, die sie gemächlich und mit Geschenken beladen antreten sollen, wird ihnen mit dem shôryô ushi 精霊牛 dann ein Lastenrind zur Verfügung gestellt. Repräsentiert werden die beiden durch eine mit Holzstäbchen gespickte Gurke und Aubergine. Damit die Geister der Ahnen auf ihrer Reise nicht vom Weg abkommen, werden traditionell zudem mit Einbruch der Dunkelheit Laternen oder Feuer an den Hauseingängen entzündet, ein mukaebi 迎え火, um sie willkommen zu heißen, und ein okuribi 送り火, um sie wieder zu verabschieden. Ein ganz besonderes Beispiel eines solchen Verabschiedungsfeuers im großen Stil ist das Gozan no Okuribi (Geleitfeuer der fünf Berge 五山送り火) oder auch Daimonji-Fest 大文字 in Kyôto, dessen Feuer als Schriftzeichen und Symbole auf den Hängen der umliegenden Berge entzündet werden und einen unglaublichen Anblick bieten.
Obwohl in der Zeit des Bon-Festes die Geister wandeln, ist es als Familienfest anders als zum Beispiel Halloween nun nicht unbedingt ein Fest mit besonders hohem Gruselfaktor. Dennoch besteht dem Volksglauben zufolge natürlich die Gefahr, dass auch Rachegeister (onryô 怨霊) oder Geister, die keine Familie haben, die sich um ihre Bewirtung und Erlösung kümmert (muenbotoke 無縁仏), die Reise in die Welt der Lebenden antreten und dort für Unheil sorgen könnten. Als eine der Maßnahmen zu ihrer Besänftigung sollen sich daher die humoristischen und heiteren Bon-Kyôgen-Stücke 盆狂言 entwickelt haben, die um das Bon-Fest zu ihrer Unterhaltung aufgeführt wurden. Davon inspiriert fanden auch die suzumi shibai 涼み芝居, die „kühlenden Aufführungen“, mit allerlei Geschichten um Geister, Spuk und Horror ihren Einzug in das Repertoire der Kabukitheater und -schauspieler, damit sie mit ihren meisterhaften Darstellungen und Erzählkünsten den Zuschauenden eine Gänsehaut bereiten und sie so die Hitze und Schwüle des Sommers einen Augenblick vergessen lassen konnten. Ganz im Sinne dieser Stücke werden daher noch heute die heißen Sommermonate um die O-bon-Zeit zum Anlass genommen, sich einen Gruselspaß zu erlauben und ein Geisterhaus (obake yashiki お化け屋敷) aufzusuchen, zu einer Mutprobe an einen Ort aufzubrechen, an dem es spuken soll, oder eben die besagten Inhalte im Fernsehen und auf Streamingdiensten anzusehen, um sich einen kalten Schauer über den Rücken laufen zu lassen und so für etwas innere Abkühlung zu sorgen.