Made in Japan: Der Versuch einer idealen Hauptstadt in der Mandschurei
Autor: Gregor Billing
Im Zuge der raschen gesellschaftlichen Veränderungen der Taishô-Zeit (1912–26) und der Bewältigung des Großen Kantô-Erdbebens (1923) wurde Japan auch auf der internationalen Bühne zunehmend aktiv. Als formaler Teilnehmer am Ersten Weltkrieg war es beispielsweise bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919 Gründungsmitglied des Völkerbundes.
Selbst der damaligen, faktisch kolonialen Herrschaft in Korea und Taiwan zum Trotz wollte sich das japanische Kaiserreich dabei nie als eine Großmacht verstanden wissen, die fremde Regionen ausbeutete. Das starke Bevölkerungswachstum und die zunehmende Industrialisierung in den 1920er-Jahren veranlassten Japan, seinen Einfluss zu vergrößern sowie Rohstoffe benachbarter Regionen zu importieren.
Eines dieser Gebiete war die Mandschurei im Nordosten Chinas, von der zwar nicht das Territorium an sich, sehr wohl aber die wichtigste Eisenbahnlinie bereits 1905 an Japan gefallen war. Die weitläufigen Ebenen waren reich an Kohle und Öl, und darüber hinaus über die Eisenbahnanbindung der Hafenstadt Port Arthur (heute Dalian) hervorragend mit Schiffen aus Japan zu erreichen.
Außerdem war die gesamte Region territorial zerstritten und die Landkarte von konkurrierenden Warlords vernarbt. Dies passte perfekt in die japanische Lesart, nicht als unterdrückende Kolonisatoren, sondern als Frieden stiftende Heilsbringer einer „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ aufzutreten. Nach dem Mandschurei-Zwischenfall von 1931 und dem schließlich 1932 ausgerufenen vermeintlich eigenständigen Staat „Manshûkoku“ 満州国 stiftete Japan die dazu passende Hauptstadt Shinkyô gleich mit.
Anstelle der traditionellen Provinzhauptstadt Mukden (heute Shenyang) fiel die Wahl für das neue Zentrum auf das heutige Changchun einige hundert Kilometer nordöstlich. Diese Stadt war damals nur wenig ausgebaut und bot die einmalige Gelegenheit, eine Hauptstadt am Reißbrett neu zu konzipieren. Mithilfe japanischer Expertise sollte dort „Shinkyô“ 新京 (wörtl. „neue Hauptstadt“) errichtet werden, um Manshûkoku sowohl nach innen als auch nach außen zu repräsentieren.
Das Staatsgebiet war jedoch nur dünn besiedelt. Um die japanische Bevölkerung zu motivieren, umzusiedeln und die weitläufigen Steppen zu bestellen, war es wichtig, ein Gefühl von Moderne und Lebensqualität zu vermitteln. Neben Bauern waren aber auch Arbeiter und Funktionäre willkommen, denn parallel sollte die Industrie und eine funktionierende Staatsverwaltung aufgebaut werden.
Den Regierungsgebäuden in der Hauptstadt kam als prunkvolle, mit Dächern im sogenannten Kaiserkronen-Stil (teikan yôshiki 帝冠様式) bedeckten Symbolbauten eine tragende Rolle in der Stadtplanung zu: Die Symbiose von traditioneller und westlicher Architektur sollte die nationale Identität Japans ausdrücken. Ein zentraler Platz, auf den sechs große Boulevards sternförmig zuliefen, erinnerte zudem an europäische Großstädte der Zeit, mit Parks und Grünanlagen rings umher.
Auch über das Stadtzentrum hinaus wurde mittels Bebauungszonen versucht, lebenswerte Wohnvierteil einzurichten, die ein urbanes Leben im Grünen verwirklichten. Damit hob sich die Gestaltung von den Großstädten in Japan ab, in denen historisch gewachsen oft Industrie und Wohnungen dicht beieinander lagen und für Konflikte durch Lärm und Verschmutzung sorgten.
Schließlich war die Stadt mit ihrer geographisch zentralen Lage hervorragend in die Umgebung von Manshûkoku eingebunden. Die massiv ausgebaute Eisenbahnlinie aus Richtung Port Arthur endete in Shinkyô, und auf dieser Trasse verkehrte nun der Schnellzug „Asia-Express“. Gezogen von einer damals sehr modernen Diesellok, finden sich später einige der technologischen Innovationen in den ersten Shinkansen-Zügen wieder. Darüber hinaus etablierte sich infolge der Neueröffnung des Flughafens Tôkyô-Haneda die zivile Luftfahrt in Manshûkoku mit Shinkyô als Drehkreuz.
Allen Idealvorstellungen zum Trotz offenbarte sich schnell eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis: Das Ziel, eine Million Siedler zum Umzug in die Mandschurei zu bewegen, scheiterte früh. Und obwohl die ersten Regierungs- und Prunkbauten schnell fertig gestellt wurden, blieb die Stadt als Ganzes unvollendet. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde Manshûkoku formal aufgelöst – und damit blieb die Vision von Shinkyô als ideale Hauptstadt im Wesentlichen nur ein Entwurf auf Papier.
Die beteiligten Stadtplaner und Architekten kehrten nach Japan zurück; trotz der unzähligen menschlichen Tragödien beflügelten die nun freien Flächen die stadtplanerischen Phantasien.