“The future of the city lies in ruins.” Diese Aussage des Architekten Isozaki Arata 磯崎新 (1931-2022) macht sich das Master-Seminar im Sommersemester 2024 zu eigen, um an drei konkreten Beispielen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Stadtplanung nach einer Zerstörung zu fragen: Tôkyô nach dem Großen Kantô-Erdbeben von 1923, die neue Hauptstadt der Mandschurei, Shinkyô, und Hiroshima nach der Zerstörung durch die Atombombe.
Das Stadtplanungsgesetz von 1919, welches in Teilen bis 1968 in Kraft blieb, setzte den Planungsphantasien von Politikern und Architekten Grenzen. Selbst in der Mandschurei, der vermeintlich freien, verfügbaren Fläche, konnten die hochtrabenden Zukunftsvisionen nicht umgesetzt werden. Denn neben rechtlichen Vorgaben sind finanzielle Spielräume das größte Hindernis bei der visionären Stadtplanung. Dennoch spiegeln die neukonzipierten Städte ein bestimmtes Verständnis, gar einer Vision der Nation wider. Anhand der drei Städte soll im jeweiligen historischen Kontext diese Vision der japanischen Nation herausgearbeitet werden.
A sudden release of energy – Leben und Beben im Tôkyô der Taishô-Zeit
Autor: Gregor Irlenkäuser
Die Taishô-Zeit (1912-1926), im engeren Sinne die Herrschaftszeit des Taishô tennô (1879–1926), im weiteren Sinne allerdings die Zeit zwischen dem Japanisch-Russischen Krieg 1904/05 und dem Mandschurei-Zwischenfall 1931, zeichnet sich durch wesentliche gesellschaftliche Umbrüche aus. Durch stetig steigende Wirtschaftsleistung, auch befeuert vom Ersten Weltkrieg, breitete sich in Japan eine Aufbruchstimmung aus, welche ihren Ausdruck u. a. in einer beschleunigten Urbanisierung fand. Die nach neuen Möglichkeiten und Arbeit suchenden Menschen strömten in die Städte und stellten die Infrastruktur vor neue Herausforderungen. Es galt einerseits die Masse der neu auftretenden und heute nicht mehr aus dem Stadtbild japanischer Großstädte hinwegzudenkenden Büroangestellten und in den Arbeitsmarkt eintretenden Frauen unterzubringen und von ihren Wohnungen zu den Arbeitsplätzen zu befördern. Andererseits verlangte die sich fortentwickelnde Gesellschaft nach neuen Möglichkeiten der Information und Unterhaltung. In hoher Geschwindigkeit entstanden Zeitungen und Zeitschriften, Kino und Radio. Die wachsende Stadtbevölkerung setzte neue kulturelle Impulse und förderte so die Entwicklung einer Massenkultur (taishû bunka 大衆文化).
Im Gegensatz zu dieser modernen Gesellschaft stand die Stadt Tôkyô. Verfügte sie zwar bereits über vereinzelte moderne Stadtteile wie das Einkaufsviertel Ginza und das neu errichtete Büroviertel Marunouchi zwischen dem neuen Hauptbahnhof und dem Kaiserpalast, war doch ein großer Teil der Stadt noch im Zustand wie zur Feudalzeit der Tokugawa (1603–1868). Der damalige Bürgermeister von Tôkyô, GOTÔ Shinpei 後藤新平 (1857–1929), hatte zwar einen 800 Mio. Yen teuren Plan zur Verbesserung der städtischen Lebensbedingungen entworfen, aber mehrere Premierminister verweigerten ihm die Finanzierung.
Am 1.9.1923 kurz vor 12 Uhr mittags bebte die Erde mit einer Stärke von 7,9. Das Große Kantô-Erdbeben und die Folgen forderten nicht nur 140.000 Menschenleben, sondern zerstörten auch große Teile Tôkyôs und Yokohamas. Trotz dieser nationalen Tragödie sahen Modernisierer eine neue Chance gekommen, die Hauptstadt endlich an die Bedingungen der modernen Gesellschaft anzupassen. Gleichzeitig sollte das Stadtbild dem neuen imperialen Selbstverständnis der Nation Ausdruck geben. GOTÔ sah Tôkyô als einen Mikrokosmos von Japan und all seiner Problemen an, so dass eine moderne Neugestaltung der Hauptstadt eine Modernisierung des ganzen Landes nach sich ziehen würde. Allerdings erwies sich der Plan, den GOTÔ schon wenige Tage nach dem Beben vorlegte, als mit Kosten von 4,5 Mrd. Yen finanziell zu ambitioniert. Die Landbevölkerung fürchtete zu Recht wegen des enormen Mittelabflusses das Nachsehen zu haben und die betroffene Stadtbevölkerung war eher an Obdach als an repräsentativen Bauten interessiert. Nach langen Beratungen in Gremien und dem Parlament wurden GOTÔ nur 468 Mio. Yen bereitgestellt. Am Ende konnte er aber auch diese nicht verwerten, denn wegen eines Attentatsversuchs auf den Kronprinzen trat das Kabinett Ende 1923 geschlossen zurück und die politischen Ziele veränderten sich.
Angesichts dieses massiven Zurückschneidens des Budgets, muss die Frage gestellt werden, was überhaupt verwirklicht wurde. Zur Wiederaufbaufeier im März 1930 konnten einige Erfolge verbucht werden. Durch Landanpassungen wurden Straßenbegradigungen und – verbreiterungen sowie der Bau von Brücken und Kanälen möglich. Ein neues Abwassersystem komplettierte die Infrastruktur. Weiterhin floss ein Großteil des genehmigten Geldes in den Aufbau von Schulen. Geringgeschätzt, da als ökonomisch nicht erforderlich angesehen, wurde die Anlage von großen Grünflächen. Jedoch wurden innerhalb von Wohnvierteln kleine Parkanlagen für die Bewohner angelegt. Sie bilden bis heute einen Großteil der Grünflächen in Tôkyô. Ebenfalls wenig Geld floss in die Sozialfürsorge, wo es allerdings mit Bedacht in den benachteiligten Vierteln eingesetzt wurde, damit es den größtmöglichen Effekt erzielen konnte. Aufgrund der Zerstörung des feudalen Handelszentrums rund um die Nihonbashi, wurde 1935 der weltweit größte Fischmarkt Tsukiji fertiggestellt. Er blieb bis 2003 bestehen.
Die Erfahrungen, die Stadtplaner und Architekten beim Wiederaufbau von Tôkyô machen konnten, setzen sie anschließend bei der Planung der neuen Hauptstadt der Mandschurei ein.