Bezugsnormen und Funktionen von Schule im Zuge von Heterogenität und Inklusion

Lehrforschungsprojekt, Studiengänge Psychologie, Erziehungs- und Bildungswissenschaften (WiSe 2014 – SoSe 2015)

Thema und Relevanz:

Die Institution „Schule“ übernimmt in unserer Gesellschaft Funktionen der Förderung, Qualifikation und Selektion. Lehrer*innen verwenden daher bestimmte Maßstäbe, um Schüler*innen unterstützen und beurteilen zu können. Diese sind einerseits explizit, normativ geprägt als auch implizit, individuell und lassen sich in soziale (Vergleichsgruppe), individuelle (auf das Individuum bezogene) und kriteriale (Kompetenzorientierung) Bezugsnorm (BN) unterteilen. Die Anwendung dieser Maßstäbe geht mit verschiedenen Wirkungen bzw. Vor- und Nachteilen auf Seiten der Lehrkräfte und Schüler*innen (z.B. bzgl. Fähigkeitsselbstkonzept) einher (vgl. Rheinberg 2008, Sacher 2009). Nach Sacher sollten daher in bestimmten schulischen Phasen des Lehrens und Lernens (Unterricht, Prüfung, Beurteilung) nur bestimmte BN zum Tragen kommen, welche er in seinem „normenintegrierenden Modell“ verdeutlicht (ebd. 2009).

Forschungsfrage(n):

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird der Bereich der Leistungsmessung und -beurteilung im Schulalltag als bedeutsam erachtet. Die leitenden Forschungsfragen waren daher: Wie gehen Lehrer*innen im Schulalltag mit den unterschiedlichen BN vor dem Hintergrund der verschiedenen schulischen Funktionen bzw. Ziele (Förderung, Qualifikation, Selektion) im Zuge von Heterogenität und Inklusion um? Stellen die unterschiedlichen BN, gekoppelt an die verschiedenen Anforderungen aufgrund der Ziele Förderung, Qualifikation, Selektion eine paradoxe Herausforderung für Lehrkräfte dar?

Ich fördere das Kind im Schulalltag an der individuellen BN orientiert, bespreche Stärken, Schwächen und vereinbare Ziele und nächste Schritte, aber in Prüfung und Beurteilung zählt dann nur die kriteriale BN – nach dem Motto: „du hast dich jetzt war die ganze Zeit sehr engagiert angestrengt und dich auch super gesteigert, aber bist trotzdem durchgefallen und musst die Klasse wiederholen bzw. die Schule verlassen“.

Forschungsdesign:

Das Forschungsdesign orientierte sich an qualitativen, sequentiell-narrativen, dialogisch-diskursiven Leitfadeninterviews (Paul 2013), welche zum Teil durch die Methode des „Lauten Denkens“ (u.a. bei der Korrektur von Klassenarbeiten, beim Erstellen von Zeugnissen und Übergangsempfehlungen) kombiniert wurde.

Wichtigste Ergebnisse:

Lehrkräfte orientieren sich während der Phasen des Unterrichtens, Prüfens und Bewertens durchaus, wenn auch nicht durchweg, am „normenintegrierenden Modell“ (Sacher 2009). Es überwiegt jedoch eindeutig die kriteriale Bezugsnorm, welche ja, so begründen sie, durch Bildungsstandards und Kompetenzorientierung vorgegeben sei. Schon im Rahmen der Prüfung seien individuelle Bezüge nur im vorgegebenen, begrenzten Maße der Binnendifferenzierung (z.B. E und G-Kurse an Gesamtschulen, Mindest-, Standard- und Regelanforderungen) möglich. In der Beurteilung gelte i.d.R. die kriteriale BN, während i.d.R. vor allem in der Lernphase (Unterricht) die individuelle BN gerade auch im Hinblick auf optimale Förderung (orientiert an Stärken, Schwächen und nächsten Schritten) versucht wird, heranzuziehen. Aufgrund der Rahmenbedingungen (Klassengrößen, Zeitmangel) sei dies jedoch ebenso nur begrenzt zu realisieren.

Überraschend war für das Forscher*innenteam, dass Lehrkräfte durchaus kein Paradoxon in der unterschiedlichen Anwendung der BN sehen (s.o.). Auch im inklusiven Unterricht war dies nicht der Fall, welches insbesondere auf Differenzkonstruktionen zurückzuführen ist: Lehrer*innen unterscheiden zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf und noch deutlicher, ob diese zielgleich oder zieldifferent unterrichtet werden (sollen).

Generell wird bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die (Haupt-)Zuständigkeit und somit auch die Funktionen von Schule sowie die Anwendung der BN im Bereich der Sonderpädagogen gesehen. Bei einer zielgleichen Förderung sehen sie sich jedoch verstärkt gefordert, um den Kindern den jeweils angedachten Schulabschluss bescheinigen zu können. Hierfür wird, wie auch bei den Klassenkamerad*innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, verstärkt bzw. ausschließlich (Prüfung, Bewertung) auf die kriteriale BN zurückgegriffen. Bei einer zieldifferenten Förderung, fühlen sich Lehrer*innen quasi „befreit“ von der Last der Beurteilung und des Selegierens, da zum Einen der/die Sonderpädagogin (mit) zuständig ist und zum Anderen die individuelle BN (siehe Förderpläne) durchgängig Anwendung finden kann, was im Allgemeinen als sehr positiv bewertet wird.

Literatur:

Rheinberg, F. (2008). Bezugsnormen und die Beurteilung von Lernleistung. In: W. Schneider, & M. Hasselhorn (Hrsg.), Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe.

Sacher, W. (2009). Leistungen entwickeln, überprüfen und beurteilen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Paul, C. (2013). In Gemeinschaft leben ­– eine Analyse von Ideal und Realität intergenerationeller Wohnprojekte unter der Perspektive von Lern- und Bildungsprozessen. Dissertationsschrift: Universität zu Köln.

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