Ein Sound Studies-Blog

ASMR zwischen Therapeutikum und Werbestrategie

von Yue Xing und Tim Weber

ASMR – das Akronym steht für Autonomous Sensory Meridian Response – ist heutzutage überaus präsent. Was vor zehn Jahren noch ein Nischenphänomen war, begeistert immer mehr Menschen, und durch die sozialen Medien verbreitet sich der Trend rasant. ASMR-Videos mit unterschiedlichen Themen können dabei auf Plattformen wie YouTube oder Twitch gefunden werden. Den Videos wird zugesprochen, dass sie durch hauptsächlich akustische Reize ein emotionales wie körperliches Wohlbefinden auslösen. Tatsächlich konnten Wissenschaftler*innen eine Verbindung zwischen dem Hören und dem Wohlbefinden erkennen. Paul D. McGeoch von der University of California stellte beispielsweise fest, dass sich im Gehirn zwischen dem auditiven Kortex (also dem Hörzentrum) und der Insula bzw. Inselrinde eine neuronale Verknüpfung erkennen lässt, sodass Reize, die eigentlich vom Hörzentrum verarbeitet werden, andere Gehirnareale aktivieren. Es würde sich demnach bei ASMR um eine Form von Synästhesie handeln, was eine neuronale Verbindung zweier für gewöhnlich getrennter Gehirnareale und der damit einhergehenden Sinneswahrnehmungen impliziert. Doch wodurch wird ASMR überhaupt ausgelöst?

In der Studie Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR): a flow-like mental state von Emma L. Barratt, und Nick J. Davis wird das Phänomen genauer untersucht. Laut dieser Arbeit gibt es drei Haupttrigger, die ASMR bewirken. Flüstern belegt mit einem Anteil von 75% hierbei den ersten Platz. Danach folgen persönliche Aufmerksamkeit (69%) und klare, knackige Töne (64%). Jedoch haben Experimente ebenfalls ergeben, dass ASMR nicht nur durch Geräusche, sondern auch durch visuelle Reize ausgelöst werden kann. Aber was genau verspürt man, wenn ASMR auftritt? Proband*innen beschreiben ein angenehmes, kribbelndes Gefühl (die sog. Tingles), das sich vom Kopf bis zu den Schultern, Rücken oder Armen ausbreitet. Dienen ASMR-Inhalte also in erster Linie der Erzeugung eines körperlichen Wohlbefindens, vergleichbar einer Massage, oder variieren die Gründe, aus denen ASMR-Clips rezipiert werden? In der genannten Studie erklärten 98% der Proband*innen, dass sie den ASMR-Konsum als eine entspannende Aktivität verstehen. 82% der Befragten benutzen ASMR als Einschlafhilfe. Weitere 70% fanden, dass ihr Stress durch ASMR abgebaut wird. Neben der entspannenden Wirkung ließen sich des Weiteren hauptsächlich zwei positive Effekte des Trends erkennen. Zum einen ist dies die emotionale Wirkung von ASMR. 80% der Proband*innen sagten, dass ASMR positiven Einfluss auf ihre Gemütslage hat. Dabei scheint ASMR selbst die Symptome einer Depression dämpfen zu können. Zum anderen scheint ASMR lindernde Effekte bei chronischen Schmerzen zu entfalten. All diese Erkenntnisse legen nahe, dass ASMR nicht nur als simpler Entspannungstrend, sondern eventuell sogar zu Therapiezwecken eingesetzt werden könnte.

ASMR bei maiLab:


Obwohl die positiven Effekte von ASMR-Inhalten also nicht von der Hand zu weisen sind, lassen sich auch negative Aspekte des Trends beobachten. Zunächst einmal kann die synästhetische Wirkung von ASMR-Videos ins Gegenteil umschlagen und Misophonie hervorrufen. Hierbei lösen Sounds wie wiederholtes Klicken oder Essgeräusche Unbehagen, Ekel oder sogar Angst aus. Interessanterweise ähneln die Trigger, die Misophonie provozieren, den ASMR-Triggern, die im Kontext von Entspannungsvideos verwendet werden. Während also ein YouTube-Clip, in dem vor einem binauralen Mikrofon die Knöpfe eines Controllers gedrückt werden, für die einen Stress abbaut, bewirkt es für die anderen das Gegenteil. Dies mag auch einer der Gründe dafür sein, weshalb der ASMR-Trend durchaus ein polarisierendes Phänomen darstellt.

Nun sind ASMR-Fans offensichtlich nicht von Misophonie betroffen, doch es gibt weitere Gründe, ASMR kritisch zu betrachten. Dass Geräusche von Alltagsgegenständen eine emotionale Reaktion hervorrufen, lässt sich schließlich auch missbrauchen. Denn nicht nur zu den Geräuschen bauen Zuschauer*innen eine emotionale Bindung auf, sondern eventuell auch zu den Objekten, von denen sie stammen. So veröffentlichte Ikea 2017 einen Werbespot, in dem eine Frau die Produkte des schwedischen Möbelkonzerns streichelt. In diesem Fall ist das ASMR-Video eindeutig als Werbung zu identifizieren, doch auch Produktplatzierungen in nicht als Werbung gekennzeichneten Inhalten sind im gegebenen Kontext denkbar (wenngleich dies auch in anderen Social Media-Trends präsent ist). Zudem vermag sich die emotionale Zuwendung nicht nur auf Objekte zu beziehen, sondern ebenso auf die Personen, die mit ihnen agieren. Dass Influencer*innen in einer parasozialen Beziehung zu ihrer Community stehen, ist zwar auch außerhalb von ASMR gegeben, aber durch die Intimität des Flüsterns wird diese Art der Beziehung noch verstärkt. ASMR kann also über Einsamkeit hinwegtrösten, jedoch durch die unerfüllte Sehnsucht das Gefühl von Einsamkeit verstärken oder überhaupt erst auslösen.

Ein Zugeständnis, das man an ASMR als Subkultur unabhängig von Wirkung und Intention machen muss, ist, dass es in unserer visuell geprägten westlichen Kultur einen stärkeren Fokus auf die akustische Realität des Alltags legt. Die verwendeten hypersensitiven Mikrofone nehmen selbst die leisesten Geräusche auf – Geräusche, derer wir uns gerade im hektischen Großstadtleben kaum noch bewusst sind. Führt ASMR also dazu, dass wir wieder aufmerksamer hinhören, dass wir der akustischen Dimension unserer Umgebung mehr Bedeutung zuschreiben? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist wohl nicht möglich, denn schließlich trägt auch die visuelle Ebene von ASMR zum Erfolg derartiger Entspannungsvideos bei. Zwar laden viele Content-Creator*innen in ihren Videos dazu ein, die Augen zu schließen, doch letztendlich entscheidet meist ein Thumbnail darüber, was bevorzugt geklickt wird. Und auch die Sexualisierung ein Teil der ASMR-Subkultur. So wurden im Juni 2021 zwei der erfolgreichsten Twitch-Streamerinnen, Indiefoxx und Amouranth, nach als zu anzüglich empfundenen ASMR-Streams von der Plattform entfernt. Unklar blieb dabei, ob es die Geräusche des „ear licking“ oder die erotischen Posen waren, die gegen die Twitch-Richtlinien verstießen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich bei ASMR um mehr als einen kurzlebigen Trend handelt. Vielmehr beschreibt es ein komplexes Phänomen, das Chancen für Wissenschaft, Therapie sowie unsere Hörkultur birgt, jedoch auch kritisch hinterfragt werden muss. Zwischen Bob Ross-Tutorials, Trigger-Videos, virtuellen Friseurbesuchen und sexualisierten Inhalten mag es schwierig sein, ASMR und seine Auswirkungen auf die Zuhörenden in Gänze zu verstehen, doch gerade das macht die Auseinandersetzung damit so interessant.

Verwendete Quellen:
– Emma L. Barratt und Nick J. Davis, Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR): a flow-like mental state, PeerJ 3:e851 (2015).
– Paul D. McGeoch und Romke Rouw, How everyday sounds can trigger strong emotions: ASMR, misophonia and the feeling of wellbeing, BioEssays 42/12 (2020).
– Christin Rodrigues, ASMR: Ein Internetphänomen mit großem Erfolg – Was genau ist ASMR?, rollingstone.de (letzter Aufruf: 24.08.2021).


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