von Leonie Blum*
Die Veröffentlichung des Urteils des EGMR am Dienstag, dem 09.04.2024,[1] löste eine Flut von Beiträgen aus,[2] die die erfolgreiche Klimaklage der „KlimaSeniorinnen Schweiz“ als Meilenstein und in zweierlei Hinsicht als historisch bezeichneten. Dieser Beitrag, bietet einen vertieften Einblick in die Hintergründe der Klägerinnen und das Ergebnis des EGMR.
Historisch ist die Entscheidung des EGMR einerseits, weil sie ein lange nicht anerkanntes Verbandsklagerecht in der Rechtsprechung etabliert. Andererseits handelt es sich bei der Klage der „KlimaSeniorinnen“ um die erste erfolgreiche Klimaklage vor dem EGMR, wodurch die Eindämmung des Klimawandels vor dem Hintergrund der Menschenrechte, insbesondere Art. 8 EMRK in ein ganz neues Licht tritt.
1. Weshalb wurde geklagt?
Mit ihrer Klage vor dem EGMR verfolgten die „KlimaSeniorinnen Schweiz“ und die vier Einzelklägerinnen das Ziel, die Schweiz und Schweizer Behörden zu verstärkten Klimaschutzmaßnahmen zu bewegen. Der Verein „KimaSeniorinnen Schweiz“ verfolgt im Namen seiner über 2000 Mitglieder den satzungsmäßigen Zweck, einen wirksamen Klimaschutz zu fördern und umzusetzen.
Während des Verfahrens schilderten Mitglieder des Vereins, wie ihre Gesundheit unter den durch den Klimawandel verursachten Hitzewellen und extremen Wetterbedingungen leide. Die Einzelklägerinnen führten aus, dass sie ihre Tagesabläufe den Temperaturen anpassen müssten, an manchen Tagen ganz zu Hause blieben und vermehrt zusammenbrechen oder spezielle Medikamente einnehmen würden, um den Kreislauf zu stabilisieren.
Die Klägerinnen machten geltend, sie seien durch die mangelhaften Maßnahmen der Schweiz gegen den Klimawandel unter anderem in ihren Rechten aus Art. 2 und 8 der Konvention (EMRK) verletzt. Die Schweiz habe versäumt, einen der Situation angemessenen Rechts- und Verwaltungsrahmen zu schaffen.
2. Wie ist die Situation in der Schweiz?
Die große Kammer des EGMR stellte aus diesem Grund umfassende Nachforschungen zu der Situation in der Schweiz an und ordnete diese im Kontext von Studien über den Klimawandel und Treibhausgasemissionen ein. Der gefolgerte Schluss war eindeutig: Seit der Temperaturaufzeichnung ist die jährliche Durchschnittstemperatur um ca. 2,1 °C angestiegen.
Die Studien ergaben unter anderem, dass die Schweiz ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen, insbesondere der Einhaltung der 1,5 °C-Grenze, nicht ausreichend in nationales Recht umgesetzt habe. Außerdem stellen Forschungen des „Climate Action Tracker“ fest, dass – sofern alle Staaten dem Ansatz der Schweiz folgen würden – sich die Erde insgesamt um 3 °C erwärmen würde. Um den entsprechenden Beitrag noch leisten zu können, müsse die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 deutlich unter null senken.[3]
3. Das Ergebnis der großen Kammer des EGMR
a. Vorüberlegungen der Kammer
Angesichts der Unzulässigkeit von Popularklagen vor dem EGMR stellte die erforderliche besondere Betroffenheit der Mitglieder des Vereins und der Einzelklägerinnen eine neue Herausforderung für die große Kammer dar. Die „Klimaklagen“ sind eine Erscheinung der Neuzeit, weshalb dem Gerichtshof keine umfangreiche Rechtsprechung zu Verfügung stand, die einen Weg weisen konnte. Die große Kammer des EGMR musste daher neue Erwägungen anstellen:
Der Gerichtshof erkannte an, es handele sich beim Klimawandel und dessen Folgen um eines der dringlichsten Themen unserer Zeit. Problematisch sei in diesem Zusammenhang, dass der Klimawandel nicht auf einzelne oder spezifische Gefahren- oder Schadensursachen zurückzuführen sei, sondern aus der unbeherrschbaren Vielzahl von Quellen, woraus sich ein Schaden erst kumulativ ergebe. Lokale oder sektorale Maßnahmen seien daher nicht geeignet, den Klimawandel zu bekämpfen. Vielmehr bedürfe es eines grenz- und flächenübergreifenden Wandels menschlichen Verhaltens. Zudem dürfe bei der Entwicklung von Lösungsansätzen nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Unterscheidung nach Emissionsquellen und erforderlichen Maßnahmen notwendig sei. Darüber hinaus variieren die erforderlichen Anpassungen je nach den spezifischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen.
b. Klagebefugnis der „KlimaSeniorinnen“
Die große Kammer des EGMR nahm die bereits von den schweizerischen Instanzen beanstandeten Punkte genau unter die Lupe. Insbesondere die Frage der Klagebefugnis, für die der Antragsteller seine Opfereigenschaft nachweisen muss, direkt von dem geltend gemachten Umweltschaden oder -gefahr betroffen zu sein, wurden genau untersucht.
Aufgrund vorangegangener Rechtsprechung, die von dem Grundsatz eine Ausnahme gemacht hatte, dass Vereinigungen keine Opferqualität aufwiesen, war der Weg zu einer Klagebefugnis des Vereins geebnet.[4] Trotzdem musste der Gerichtshof – unter Heranziehung der konkreten Gegebenheiten – eine genaue Abgrenzung zu Popularklagen vornehmen. Die große Kammer des EGMR differenzierte dabei zwischen der Klagebefugnis einer Person und der Klagebefugnis einer Vereinigung.[5]
Erstere werde dann angenommen, wenn der Antragsteller nachweisen könne, dass er von der Umweltschädigung oder -gefährdung unmittelbar betroffen sei. Kriterien hierfür seien der Mindestschweregrad, die Dauer, geografische Nähe und die Auswirkungen auf den Einzelnen. Ein dringendes Bedürfnis, das die Opferqualität der Einzelklägerinnen begründen würde, lehnte die große Kammer ab. Sie führte aus, dass keine Belege darauf hindeuten würden, dass die Klägerinnen den Auswirkungen des Klimawandels in einer hierfür ausreichenden Weise ausgesetzt seien.
Für die weitaus interessantere Frage der Klagebefugnis von Vereinigungen führt der EMRG aus, dass die Konvention im Licht der aktuellen Situation und Gesellschaft ausgelegt werden müsse. In der Gesellschaft habe sich bereits die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Klagebefugnis von Verbänden vor dem Hintergrund bestehen solle, dass diese meist eine höhere Expertise in komplexen Rechts- sowie Tatsachenfragen besitzen würden und ihnen bessere finanzielle und logistische Ressourcen zur Verfügung stünden. Insoweit stellte der EGMR auch fest, dass der Rückgriff auf Vereinigungen häufig der einzige Weg zur Geltendmachung von Individualinteressen sein kann. Unter gewissen Voraussetzungen sei eine Klagebefugnis insoweit anzuerkennen:[6] Die Vereinigung müsste rechtmäßig in dem Hoheitsgebiet niedergelassen oder dort handlungsfähig sein und nachweisen können, dass sie in Übereinstimmung mit ihren satzungsmäßigen Zielen einen bestimmten Zweck verfolge. Dieser müsse in der Verteidigung der Menschenrechte der Mitglieder oder anderer betroffener Personen in dem Hoheitsgebiet liegen. Dies gelte unabhängig davon, ob sie sich auf kollektive Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte gegen die Bedrohungen durch den Klimawandel beschränke oder diese einschließe. Zuletzt müsse die Vereinigung nachweisen können, dass sie tatsächlich als qualifiziert und repräsentativ angesehen werden könne, um an Stelle ihrer Mitglieder oder Dritter tätig zu werden.
In Anwendung dieser Kriterien wurde die Vereinigung „KlimaSeniorinnen Schweiz“ als klagebefugt angesehen.
Der Gerichtshof kam im Übrigen zu dem Schluss, dass die Schweiz es versäumt habe, in rechtzeitiger und angemessener Weise bei der Ausarbeitung, Entwicklung und Umsetzung des einschlägigen Rechts- und Verwaltungsrahmen tätig zu werden und damit ihrer Verpflichtung aus Art. 8 EMRK[7] nicht nachgekommen sei.
4. Abschließende Überlegungen
Die „KlimaSeniorinnen“ haben mit ihrer erstmals erfolgreichen Klimaklage vor dem EGMR nicht nur weiter den Weg für den Klimaschutz als Menschenrecht geebnet, sondern auch die Grundlage für ein Verbandsklagerecht vor dem EGMR geschaffen. Mit Blick in die Zukunft ist zu erwarten, dass auch nationale Gerichte ihren Umgang mit Klagen von Vereinigungen neu denken und einen dem Klimawandel und der aktuellen gesellschaftlichen Situation angemessenen Ansatz finden müssen. Es ist jedenfalls damit zu rechnen, dass „Klimaklagen“ in Zukunft noch häufiger Schlagzeilen machen werden. Da zum Zeitpunkt der Fassung der meisten Gesetze der Klimawandel und dessen Auswirkungen noch keine Rolle spielten, sind die zu erwartenden Urteile von besonderem Interesse und bieten sicherlich auch in Zukunft interessante Interpretationsmöglichkeiten sowohl des nationalen als auch internationalen Rechts. Da vor allem Verbandsklagen einen langen Vorlauf brauchen, bleibt jedoch vermutlich geduldig abzuwarten, wann das nächste bahnbrechende Urteil Schlagzeilen macht.
[1] Dieser Beitrag stützt sich auf das Urteil des EGMR vom 09.04.2024 und für dessen Verständnis die Urteilsbegründung des EGMR v. 15.04.2024 – abrufbar unter: VEREIN KLIMASENIORINNEN SCHWEIZ AND OTHERS v. SWITZERLAND (coe.int) (letzter Zugriff: 17.04.2024).
[2] Unter anderem: Amos, „Historischer“ Sieg für „Klimaseniorinnen“, Beck – abrufbar unter: „Historischer“ Sieg für „Klimaseniorinnen“ (beck.de), (letzter Zugriff: 17.04.2024); Kring, EGMR: Klimaklage der KlimaSeniorinnen erfolgreich, LTO – abrufbar unter: EGMR: Klimaklage der KlimaSeniorinnen erfolgreich (lto.de) (letzter Zugriff: 17.04.2024).
[3] EGMR, Urteil v. 09.04.2024 – 53600/20, Rn. 78.
[4] In dem Fall „Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu“ erkannte der Gerichtshof die Klagebefugnis von Vereinigungen an, die im Namen von unmittelbaren Opfern Anträge stellten – auch dann, wenn die Opfer selbst noch in der Lage gewesen wären eine Klage zu erheben.
[5] Vgl. EGMR, Urteil v. 09.04.2024 – 53600/20, Rn. 458-506.
[6] Vgl. EGMR, Urteil v. 09.04.2024 – 53600/20, Rn. 502.
[7] Schwerpunktartig wird hier nur auf Art. 8 EMRK eingegangen.
*Die Autorin ist Studentische Hilfskraft am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Abteilung Gesellschaftsrecht der Universität zu Köln bei Prof. Dr. Jens Koch, der zudem als Direktor des Instituts für Nachhaltigkeit, Unternehmensrecht und Reporting tätig ist. (Link)
Zitiervorschlag: Blum, Erfolgreiche Klimaklage vor dem EGMR v. 09.04.2024 – Ein Startschuss?, INUR-blog v. 10.05.2024 (abrufbar unter: https://blog.uni-koeln.de/inur-blog/erfolgreiche-klimaklage-vor-dem-egmr-v-09-04-2024-ein-startschuss/; zuletzt abgerufen am: ).