von Katharina Makosch
Was ist Sound? Die Frage ist schwer eindeutig zu beantworten, da dieser Begriff in einem großen Spektrum an Bedeutungen verwendet wird. So kann er den spezifischen Sound von Bands oder Musiker*innen bezeichnen, generell als „Klang“ oder „Schall“ übersetzt werden, oder auch in Bezug auf audiovisuelle Medien die „Tonebene“ meinen.
In der Fachliteratur lassen sich zwei grundsätzliche Definitionsansätze unterscheiden: Auf der einen Seite handelt es sich um eine physikalische bzw. akustische Herangehensweise. Dabei wird Sound durch Begriffe wie Schallwellen, Frequenzen oder auch Schwingungen beschrieben. Nach diesem ersten Ansatz kann Sound vermutlich am treffendsten mit „Schall“ übersetzt werden. Auf der anderen Seite finden sich diverse phänomenologische Ansätze. In diesen wird Sound als wahrgenommenes Phänomen in kulturell-historischen oder auch subjektiven Kontexten diskutiert und kann besser mit dem nicht zwangsläufig naturwissenschaftlichen Begriff „Klang“ übersetzt werden.
Auch wenn einige von uns sich nicht besonders gut mit Akustik auskennen, haben wir aller Wahrscheinlichkeit nach schon einmal von Frequenzen oder Schallwellen gehört und erkennen an, dass sich das, was wir hören, mit diesen Mitteln beschreiben und analysieren lässt. Phänomenologie hingegen ist für viele Menschen zunächst nur ein Zungenbrecher. Um den phänomenologischen Definitionsansätzen von Sound mehr Kontext zu geben, sollen sie hier in das Konzept der Lebenswelt eingeordnet werden.
Der Begriff der Lebenswelt wurde stark von Edmund Husserl geprägt, welcher als Begründer der Phänomenologie gilt. In der Phänomenologie geht es, vereinfacht gesagt, um Bewusstsein und Erlebensarten. Was also ist die Lebenswelt? Husserl beschreibt sie als „das Allerbekannteste“ und „im menschlichen Leben Selbstverständliches“; die Lebenswelt ist uns „durch Erfahrung vertraut“ (Husserl 2012, S. 133). Sie umfasst unsere Wahrnehmung, unsere Wertvorstellungen, unsere Erfahrungen und Erinnerungen etc., ist also die Welt, in der wir selbstverständlich leben. Husserl verwendet sie allerdings als Allgemeinbegriff, der konkret verschiedene Ausprägungen haben kann. Unsere Wahrnehmungen und Wertvorstellungen können sich inhaltlich, intersubjektiv und interkulturell unterscheiden, aber dass wir die Welt wahrnehmen, haben wir als Menschen gemeinsam.
Das Phänomen Klang diskutiert Husserl in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie als „Fülle“ (Husserl 2012, S. 30). „Füllen“ sind für ihn spezifische sinnliche Qualitäten, die wir an Körpern in der Welt erfahren bzw. erleben können. So hören wir zum Beispiel das Ticken einer Uhr und nehmen wahr, dass das Ticken von der Uhr ausgeht. Unter Umständen gehen damit auch Bewertungen einher: Das Ticken kann mir gefallen, es kann mich aber auch stören. Neben generellen Vorlieben und Abneigungen spielt hier auch der konkrete Kontext eine Rolle: Stehe ich unter Zeitdruck, kann mir das Ticken meinen Stress vor Augen führen und diesen sogar noch verstärken.
Das Ticken einer Uhr oder beliebige andere Klänge lassen sich allerdings auch akustisch bzw. naturwissenschaftlich beschreiben. Für diese Herangehensweise ist es irrelevant, was das Ticken der Uhr für hörende Subjekte bedeutet. Aber ist eine „objektive“ Beschreibung dadurch richtiger oder besser? Hierzu lohnt es sich, sich mit Husserls Kritik an den Naturwissenschaften zu beschäftigen. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass Husserl wissenschaftliche Erkenntnisse nicht leugnet und seine Kritik nicht ablehnend, sondern begründend ist.
Der Begriff der Wissenschaft, auf den sich Husserl bezieht, umfasst die Naturwissenschaften seit Galileo Galilei. Damit einher geht die Vorstellung, dass die Natur mathematisierbar bzw. idealisierbar sei. Geometrisch gesehen ist es sinnvoll, von exakt runden Kreisen auszugehen, auch wenn diese in der Natur nie exakt rund sind. Dies macht einen exakt runden Kreis allerdings auch zu einem unerreichbaren Ideal. Da weder solche Kreise noch Atome oder Schallwellen uns anschaulich in der Lebenswelt begegnen, nimmt die Wissenschaft für Husserl den Status einer Hinterwelt an: Unser Wissen darum, dass ein Klang, den wir hören, durch Schallwellen zustande kommt, bleibt abstrakt, da uns lediglich unsere Wahrnehmung des Klangs gegeben ist.
Die Füllen, d.h. die sinnlichen Qualitäten, die wir wahrnehmen können, sind nach Husserl allerdings nicht mathematisierbar. Zunächst erscheint es wenig intuitiv, dass eine akustische Beschreibung von Klang also nicht angemessen sein soll. Aber stellen wir uns vor, wir wollten das Küssen einer geliebten Person beschreiben. Es wäre möglich, die exakten Druckverhältnisse, den Speichelfluss, die im Körper wirkenden Hormone etc. physikalisch-naturwissenschaftlich zu bestimmen. Die gesammelten Daten würden im Endeffekt jedoch nicht abbilden, wie wir den Kuss erleben. In Bezug auf Klang könnten wir zum Beispiel analysieren, was einen Jumpscare, also ein visuell und auditiv urplötzlich auftretendes Ereignis in audiovisuellen Medien, akustisch ausmacht. Die Daten an sich würden uns aber nicht erschrecken.
Dennoch macht gerade die Selbstverständlichkeit, mit der wir davon ausgehen, dass Töne ‚eigentlich‘ Schwingungen sind, deutlich, dass Hinterwelten immer auch Teil der Lebenswelt sind. Nur weil das Erleben von Phänomenen nicht mit deren naturwissenschaftlicher Beschreibung übereinstimmt, heißt dies nicht, dass wissenschaftliche Forschung keinen Platz in der Lebenswelt hat. Das Gegenteil ist der Fall: Die Wissenschaften sind insofern in der Lebenswelt begründet, als deren praktischer Nutzen lebensweltliche Relevanz hat. Haben wir Jumpscares naturwissenschaftlich analysiert, können wir uns dies zunutze machen, um zum Beispiel einen Horrorfilm so zu vertonen, dass die Zuschauer*innen noch stärker zusammenzucken.
Im Rückgriff auf Husserl lässt sich somit festhalten, dass naturwissenschaftliche Methoden und Erklärungen von Klang in unserem Leben einen Nutzen haben. Dabei sollten unsere Lebenswelt(en) und die damit verbundenen Wahrnehmungen allerdings nicht in Vergessenheit geraten. Das Erleben von Klang ist zwar nicht objektiv, aber gerade deshalb darf es nicht als irrelevant abgewertet werden.
Verwendete Quelle:
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 2012, S. 21-58, 111-143.