von Jule Metzler
Billie Eilish ist eine der erfolgreichsten Popkünstlerinnen der letzten Jahre. So stellte sie zum Beispiel 2020 einen Rekord als jüngste Musikerin auf, die alle vier Hauptkategorien der Grammys gewann. Trotzdem wird immer wieder der Vorwurf erhoben, Billie Eilish würde nicht singen, sondern im Grunde nur flüstern.
Wie der Musikwissenschaftler Tilo Hähnel berichtet, hat die damit zusammenhängende Frage, was man als Gesang bezeichnen kann, eine lange Geschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als in der Popularmusik neue Gesangsstile vermehrt auftraten, gab es spezifische Vorstellungen vom gelungenen vokalen Vortrag, die sich aus der sängerischen Praxis früherer Jahrhunderte speisten. Insbesondere im Umfeld der Oper fand sich das Ideal einer reinen und klaren Stimme. Als höchstes Ziel der klassischen Gesangsausbildung galt der Belcanto. Wörtlich aus dem Italienischen übersetzt bedeutet „bel canto“ schöner Gesang. Zu dessen Ästhetik gehören neben der Reinheit des Tons eine dynamische Flexibilität und Agilität, etwa bei Verzierungen. Heute weiß man, unter anderem dank der historisch informierten Aufführungspraxis (eine Musizierpraxis, bei der es um möglichst authentische Aufführungen früherer Musik geht), dass der Belcanto in der vokalen Kunstmusik vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nicht immer den Stellenwert besaß, der ihm nachträglich zugesprochen wurde. Es wird davon ausgegangen, dass es hier durchaus vokale Ausdrucksmittel gab, die von stimmlicher Rauheit und Geräuschhaftigkeit geprägt waren.
Als nun Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr Popsänger*innen nicht mehr das Ideal einer klaren und reinen Stimme anstrebten, wurden die neuen Arten zu singen Gegenstand ästhetischer Debatten. Jonathan R. Greenberg geht davon aus, dass viele Begriffe für die Gesangstechniken in der populären Musik vor allem entstanden sind, um eine Abgrenzung zu vermeintlich echtem Gesang zu bilden. Beispiele sind Bezeichnungen wie Shouting, Belting, Screaming, Growling, Howling oder Moaning. Eine Technik, die ab den 1920er-Jahren immer wieder für Diskussionen sorgte, ist das sogenannte Crooning. Hierbei handelt es sich um eine Variante des leisen Singens, bei der Sänger*innen ihre Lieder flüsternd und hauchend interpretierten. Dadurch stellte sich der Eindruck von Intimität und Wärme ein. Die Entstehung dieses Stils hängt auch mit der Entwicklung von Mikrofonen zusammen, an die es die Gesangstechniken anzupassen galt.
How the microphone gave us crooning (BBC):
Während Crooner anfangs als „verweiblichte Männer“ diffamiert wurden, wandelte sich die Rezeption in den 1940er-Jahren durch die Popularität von Sängern wie Bing Crosby oder Frank Sinatra. Crooning wurde als Vokalstil der populären Musik anerkannt. Das weibliche Pendant zum Crooner findet man in den sogenannten Torch Singers. Diese Sängerinnen croonten in ihren Torch Songs, die auch vermehrt in den Jazz Einzug hielten, über Sujets wie Liebesschmerz und ewige Treue.
Billie Eilishs Gesangsstil ist somit kein neues Phänomen. Man kann sie durchaus mit Torch-Sängerinnen vergleichen. Und auch der Einwand, dass Flüstern kein Singen sei, besteht seit nunmehr 100 Jahren. Es gibt inzwischen viele verschiedene Stile im populären Gesang, die allesamt legitim sind, denn es geht den Sänger*innen darum, die Inhalte der Songs oder das eigene Persönlichkeitsbild durch den gewählten Stil zu unterstützen. Billie Eilish selbst reagierte spätestens mit der Performance ihres Bond-Songs No Time to Die bei den Brit-Awards 2020 auf ihre Kritiker*innen. Am Ende des Songs sang sie entgegen ihrer sonst flüsternden, leisen Gesangstechnik ein Crescendo, das wohl allen zeigen sollte, dass sie auch laut werden kann.
Verwendete Quelle:
Tilo Hähnel, Was ist populärer Gesang? Zur Terminologie vokaler Gestaltungsmittel in populärer Musik, in: Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960, hrsg. von M. Pfleiderer, T. Hähnel, K. Horn und Chr. Bielefeldt, Bielefeld 2015, S. 53-72.