von Thomas Oehlke
Unsere Ohren waren einst offen für alles. Klänge prasselten auf unser Gehör, und wir konnten uns nur zwischen zwei Zuständen entscheiden: Entweder wir hörten alle Klänge, die in unserer Umwelt vorkamen, oder wir versuchten, möglichst keine zu hören. Unsere Ohren waren passiv und wenig selektiv. Mit der Erfindung von Kopfhörern und den damit verbundenen Wiedergabegeräten hat sich das geändert. Wir können jetzt selbst bestimmen, in welcher akustischen Umwelt wir leben wollen.
Kopfhörer gehen sehr undemokratisch vor. Sie schließen alle Klänge aus, die nicht aus ihnen selbst stammen, und lassen nur die Klänge zu, die aus dem Wiedergabegerät kommen. Dies wirkt sich selbstverständlich auf unser soziales Umfeld aus. Heutzutage ist es uns möglich, uns von unseren Mitmenschen abzukapseln und dadurch unsere eigene akustische Realität zu schaffen, von der andere ausgeschlossen bleiben. So können wir unerwünschte Gespräche vermeiden, unangenehmen Klängen entgehen oder auch die Stille mit Leben füllen. Allein durch Kopfhörer haben sich unsere Sinne verändert. Doch andere technische Geräte üben ebenfalls großen Einfluss aus. Vergleichbar den Effekten, die tragbare Radios und MP3-Player auf unser Hören haben, beeinflussen Bildschirme unser Sehen und Touchscreens unser Fühlen. Mit Smartphones trainieren wir diese Sinne Tag für Tag in hohem Maße; Geschmacks- und Geruchssinn bleiben dabei auf der Strecke und werden im Vergleich kaum genutzt.
Es haben sich jedoch auch andere Teile unserer Wahrnehmung verändert. Dazu gehören unter anderem das Gefühl von Raum und Zeit. Räumliche Entfernungen sind für uns zusammengeschrumpft, nicht allein durch Transportfahrzeuge wie Züge und Flugzeuge, sondern ebenso durch das Telefon und das Radio. Wir können im Radio Musik hören, die kilometerweit entfernt von uns abgespielt wird. Gleiches gilt für das Telefon, durch das wir mit Menschen kommunizieren können, die sich vielleicht auf einem anderen Kontinent befinden. Sie erscheinen uns nah, als ob sie direkt neben uns stünden, sind aber weiter entfernt als ein Mensch früher überhaupt hätte reisen können. Als Folge der elektroakustischen Reproduktion, also der Möglichkeit, Klänge aufzunehmen und über einen Lautsprecher wiederzugeben, können wir selbst bestimmen, wann wir welchen Klang hören wollen. Während man sich vormals zur rechten Zeit am rechten Ort befinden musste, um einen bestimmten Klang wahrzunehmen, spielt nun der Zeitpunkt keine Rolle mehr. Des Weiteren modifiziert die Möglichkeit, denselben Klang immer wieder zu hören oder ihn beschleunigen und verlangsamen zu können, unser Empfinden der Zeit. Sie wird variabel und zu gewissen Teilen auch beliebig.
Solch ein technologisches sensorisches Training ist nicht allein in unserem Alltag von Bedeutung. So hat zum Beispiel das Militär dessen Nutzen längst erkannt. Durch den spielerischen Einsatz von Computern können Menschen in höchst realistische Kriegsszenerien versetzt werden, in denen das sensorische Training sich weiter verfestigen lässt. Soldaten erfahren auf diesem Wege eine Vorbereitung auf reale Kriegssituationen. Visuelle und auditive Reflexe werden durch schnelle Bild- und Tonfolgen an ihre Grenzen geführt und damit stetig ausgebaut. Kriegstechnologie nähert sich im Zuge ihrer Digitalisierung immer weiter an Videospiele und andere Unterhaltungsmedien an. Beispielsweise weist die Lenkung tatsächlicher Drohnen mittels Gamepads Parallelen zur Kontrolle militärischer Vehikel in Computerspielen auf. Ein Gefährt, sei es nun real vorhanden oder digital simuliert, wird gesteuert, ohne dass der Fahrer in diesem Fahrzeug physisch präsent sein muss. Sämtliche auditiven und visuellen Informationen werden digital übermittelt, wodurch die Wirklichkeit für einen Drohnenpiloten scheinbar zum Spiel wird. Das sensorische Training der Medien wird auf die Realität transferiert, in der es nicht viel anders erscheint.
Artikel: The surprising uses of game controllers
Digitale Technologie ist ein wesentlicher Teil unserer Kultur geworden und bestimmt, wie wir mit unserer Umwelt interagieren. Unserer Sinne werden geschult, bestimmte Zusammenhänge stärker wahrzunehmen als andere, und wir entwickeln ein neues Gefühl von Raum und Zeit. Sensorisches Training hat es in der einen oder anderen Ausprägung vermutlich schon immer gegeben. Indessen darf angenommen werden, dass sich das Bewusstsein für unsere Umwelt gerade durch die neuen Technologien nachhaltig verändert hat – Technologien, die Einzug in alle Bereiche unseres Lebens, seien diese ökonomisch, politisch, militärisch oder ästhetisch, gehalten haben. Ungeachtet der ‚düsteren‘ Anwendungspotenziale werden die meisten von uns aber wahrscheinlich einfach froh sein, in der Bahn die neueste App auf dem Smartphone auszuprobieren, während unser Lieblingslied durch die Kopfhörer schallt.
Verwendete Quelle: Michael Bull, Technological Sensory Training, in: J. G. Papenburg und H. Schulze (Hg.), Sound as Popular Culture – A Research Companion, Cambridge 2015, S. 233-239.