Bildungsreform in Japan

Bildungspläne, die die Grundlage für das Lernen in den Schulen darstellen, werden in Japan – wie in vielen anderen Ländern auch – etwa alle zehn Jahre überarbeitet (für allgemeine Informationen zum japanischen Schulsystem hier klicken). Die jüngste Reform wird gerade umgesetzt, die Lehrpläne (gakushû shidô yôryô) gelten nach einer mehrjährigen Übergangsphase ab April dieses Jahres für alle Jahrgangsstufen der Grundschulen (shôgakkô, Klasse 1–6). Die Mittelschulen (chûgakkô, Klasse 7–9) folgen ein Jahr später, und die Oberschulen (kôtô gakkô, Klasse 10–12) führen die neuen Regelungen ab April 2022 jahrgangsweise ein.

Die Bildungspläne legen das Kerncurriculum der jeweiligen Fächer fest und haben großen Einfluss auf die Lehrwerke. Als zentrale Ziele der neuen Pläne werden die verbesserte Ausbildung von Qualifikationen und Kompetenzen sowie die Verbesserung der Leistungsmessung angestrebt. Betont wird neben dem Erwerb von Wissen und Fertigkeiten die Vermittlung von Denk- und Entscheidungsvermögen. Sie sollen dazu beitragen, erworbene Wissens- und Fertigkeitsbestände in einer Situation auszuwählen und auf unbekannte Kontexte zu übertragen. Darüber hinaus soll die Fähigkeit gestärkt werden, das Lernen für den Alltag und die Gesellschaft nutzbar zu machen.

Wichtigste Änderungen der neuen Bildungspläne sind:

  • die stärkere Ausbildung sprachlicher Kompetenzen und Ausdrucksfähigkeit sowohl im Japanischunterricht (kokugo) als auch in allen anderen Fächern
  • die Verbesserung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung durch Bearbeitung realitätsnaher, problemorientierter Aufgabenstellungen
  • die Einführung von Fremdsprachen, i.d.R. Englisch, ab der Klasse 3 der Grundschule (in den Klassen 3 und 4 lernen die Schüler*innen im „fremdsprachliche Aktivitäten (gaikokugo katsudô)“-Unterricht Fremdsprache und Kultur sowie einfache mündliche Kommunikation kennen. Ab der Klasse 5 wird Englisch dann als Unterrichtsfach angeboten. Bisher begann der Englischunterricht an öffentlichen Schulen erst in der Mittelschule)
  • die Abwendung vom reinen Frontalunterricht und die aktive Teilnahme aller Schüler*innen am Unterricht durch Gruppenarbeit oder Diskussionen (Stichwort: active learning)
  • die Vorbereitung der Schüler*innen auf die Digitalisierung durch die Nutzung digitaler Werkzeuge in einer Vielzahl von Fächern, beginnend in der Grundschule.

Mit der Reform der Bildungspläne werden auch die zentralen Eingangsprüfungen für die Universitäten verändert. So sollen beispielsweise an die Stelle der bisher üblichen Multiple-Choice- oder Markierungsverfahren in Japanisch und Mathematik offene Aufgabenformate treten, die von den Kandidat*innen frei formuliert zu bearbeiten sind. Für Englisch soll der Nachweis aller vier Fertigkeiten (neben Leseverstehen und Schreiben auch Hörverstehen und Sprechen) beispielsweise durch international anerkannte Sprachzertifikate erbracht werden.

Die Einführung dieser wesentlichen Neuerungen wurde kurz vor Ende des vergangenen Jahres noch einmal zunächst bis in das akademische Jahr 2024 verschoben. Inzwischen ist klar, dass das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (Monbukagakushô) bis dahin jährlich eine Überprüfung vornehmen und dann die Leitlinien für den im darauffolgenden Jahr stattfindenden Eingangstest festlegen wird. Dennoch ist davon auszugehen, dass die angestrebten Änderungen ihren Einfluss auf die schulische Praxis haben werden. Denn während bislang in der zentral durchgeführten Eingangsprüfung für die Universitäten (sentâ shiken) alle Fächer nur im Auswahlverfahren geprüft wurden und es eher auf Wissen und in gewissem Umfang auf Fertigkeiten ankam, soll die neue Prüfung (daigaku nyûgaku kyôtsû tesuto) auch die in die Bildungspläne neu aufgenommenen Lernziele wie Ausdrucksfähigkeit sowie Denk- und Urteilsvermögen messen.

Die neue Prüfung wird erstmals im kommenden Jahr durchgeführt, allerdings gelten für Japanisch, Mathematikund Englisch vorerst noch nicht die neuen Vorgaben, sondern es wird weiterhin Multiple-Choice-Aufgaben geben. Dennoch sind auch hier schon kleine Veränderungen spürbar. Wie das für die Durchführung des Tests zuständige Zentrum am 29. Januar 2020 mittteilte, wird der Test für Japanisch unverändert in 80 Minuten durchgeführt werden. Wären frei formulierte Aufgabenformate zum Einsatz gekommen, hätte die Bearbeitungszeit bei 100 Minuten gelegen. In der Englischprüfung sollen bislang übliche Aufgabenformate wie die Umstellung von Wörtern oder die Auswahl von Aussprache- und Betonungsmustern einzelner Wörter allerdings nicht mehr vorkommen. Für die Bereiche „schriftlich“ (hikki), in denen es vor allem um das Leseverstehen gehen wird, und „Hörverstehen“ (risuningu) wird es künftig jeweils 100 Punkte geben, wodurch dem Hörverstehen stärkeres Gewicht zukommt (bislang nur 20%).

Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die Umstellung des Systems nur dann erfolgreich verlaufen wird, wenn die neuen Lerninhalte auch Gegenstand der wichtigen Aufnahmeprüfungen sind. Aber selbst dann sehen Insider gewisse Schwierigkeiten bei der Umsetzung, da es sich vor allem um eine Reform handelt, die im Top-down-Prozess in die Schulen kommt. Wenn die Lehrkräfte nicht die entsprechenden Qualifikationen besitzen, um die neuen Unterrichtsformen und -inhalte umzusetzen, wird sich trotz aller wohlgemeinten und ambitionierten Veränderungen der Lehrpläne so schnell nichts an der bisherigen Praxis ändern.

Bei einer Exkursion an die Japanische Internationale Schule Düsseldorf konnten sich die teilnehmenden Kölner Studierenden ein erstes Bild davon machen, wie der Unterricht an einer japanischen Grundschule verläuft. Derzeit befindet sich die Schule zwar noch in der Übergangsphase, aber da die neuen Lehrpläne für die Grundschule ab dem April 2020 gelten, sind in den meisten Stufen die Veränderungen größtenteils abgeschlossen. Insbesondere im Vergleich zu Schulen innerhalb Japans sei die Umsetzung der Neuerungen an einer Auslandsschule insgesamt schneller zu bewerkstelligen. Dadurch habe sich die Schule deutlich verändert, erklärte der Direktor, Herr Nakada, der sich viel Zeit nahm, um mit den Studierenden über seine Visionen der idealen Schule zu sprechen. Besonders positiv hoben die Teilnehmer*innen an der Exkursion die intensive Beteiligung, die gute Zusammenarbeit der Schüler*innen und das hohe Motivationsniveau in den meisten beobachteten Fächern hervor.

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