Tagungsbericht – Wie erzählt die Welt?

「学問の堂を作るは一朝の事にあらず、又一人の事にあらず」
„Der Tempel des Wissens wird nicht an einem einzigen Tag
und auch nicht von einer einzigen Person erbaut.“

Mit wenigen Worten beschreibt der japanische Schriftsteller Natsume Sōseki (1867–1916) in seiner 1907 erschienenen „Abhandlung über die Literatur“ (Bungakuron 文学論) zwei grundlegende Aspekte wissenschaftlicher Forschung: Zum einen braucht es einiges an Zeit, um Fortschritte zu machen. Zum anderen können diese Fortschritte nur im Austausch mit anderen erzielt werden. Frei nach diesem Motto fanden sich am 15. und 16. Juni 2018 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Fachdisziplinen in der Kölner Japanologie zusammen, um gemeinsam über den eigenen Tellerrand zu schauen.

Die literarische Figur
Dreh- und Angelpunkt des interdisziplinär ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Symposiums war die Kategorie der literarischen Figur. Unter dem Titel Wie erzählt die Welt? wollten Vertreter*innen der Anglistik, Germanistik, Islamwissenschaften, Japanologie, Komparatistik und Sinologie der Frage auf den Grund gehen, welche Auswirkungen gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf die Darstellung literarischer Figuren haben. Dabei sollten insbesondere solche Texte im Fokus stehen, die sich thematisch mit der Moderne und ihren Herausforderungen für Individuum und Gesellschaft auseinandersetzen.

Theoretische und methodische Zugänge
Ein weiteres zentrales Anliegen der Veranstaltung bildete die Suche nach theoretischen und methodischen Zugängen, die eine wissenschaftlich fundierte Analyse literarischer Figuren ermöglichen. Im Sinne einer Bestandsaufnahme der Istzustände der einzelnen Fachdisziplinen sollte es hierbei auch um die Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen eines Theorie- und Methodentransfers gehen. Wirkt sich die kulturelle Bedingtheit literarischer Texte auch auf die notwendigen Analysekriterien aus? Sind an europäischen Texten entwickelte Konzepte auch auf außereuropäische Literaturen anwendbar?

Die Vorträge
Den Auftakt des Symposiums bildete ein Vortrag von Ralf Schneider und Tyll Zybura
(Bielefeld), der sich der diskursiven Verortung der Darstellung von Kinderfiguren im zeitgenössischen britischen Roman widmete. Danach beschäftigten sich im ersten Panel Martin Thomas (Köln) mit der Konzeption von Figuren in Kurzgeschichten und Max Roehl (Tübingen) mit der Funktion von Figuren im klassischen Drama. Anschließend thematisierte Göran Nieragden (Köln) die Tendenz zur Fragmentierung von Figuren in der modernen amerikanischen Erzählliteratur, ehe Alexander Saechtig (Bochum) das Phänomen des „mittleren Helden“ der chinesischen Prosa der 1960er Jahre erörterte. Den ersten Tag beschlossen Stephan Milich (Köln) mit einem Beitrag zur Figur des Flüchtlings in der Erzählung „Männer in der Sonne“ des palästinensischen Autors Ghassan Kanafani (1936–1972) und Janett Claus (München) mit einem Beitrag zur Identitätssuche der Protagonisten in dem Roman „Das Museum der Stille“ der japanischen Autorin Ogawa Yōko (*1962).

Der zweite Tag wurde durch die Diplompsychologin Stefanie Miketta (Saarbrücken) eröffnet. Sie referierte zu kognitiven Aspekten der Figurenrezeption. Nachfolgend begab sich Nicolas Pethes (Köln) im Werk verschiedener Autoren wie Robert Musil (1880–1942) und David Foster Wallace (1962–2008) auf die Spur von „Männern ohne Eigenschaften“, bevor Claudia Öhlschläger (Paderborn) anhand dreier Texte von Franz Hessel (1880–1941), Joseph Roth (1894–1939) und Siegfried Kracauer (1889–1966) den Feuilletonisten als politische Figur charakterisierte. Im Anschluss besprach Peter Dové (Genf) das Phänomen der Intertextualität am Beispiel der Figuren der Erzählungen des syrischen Schriftstellers Zakariya Tamir (*1931), woran sich ein Beitrag von Weiping Huang (Köln) zu den Figuren im Werk der chinesischen Autorinnen Ding Ling (1904–1986) und Zhang Ailing (1921–1993) anschloss. Im letzten Panel betrachteten schließlich Anna-Lena von Garnier (Düsseldorf) die Besonderheiten der Frauenfiguren im Roman „Out“ der japanischen Schriftstellerin Kirino Natsuo (*1951) und Béatrice Hendrich (Köln) die Darstellung von Männern in der modernen türkischsprachigen Erzählliteratur am Beispiel des Romans „Die Madonna im Pelzmantel“ von Sabahattin Ali (1907–1948).

 

Die Ergebnisse
Trotz dieses auf den ersten Blick recht heterogen anmutenden Vortragsprogramms ergaben sich im Verlauf der Tagung zahlreiche thematische Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen, die insbesondere auf der konvergierenden motivischen Gestaltung der analysierten Texte beruhen. Daraus lässt sich schließen, dass ähnliche Erfahrungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, wie man ihnen im Kontext der Moderne begegnet, auch eine ähnliche literarische Ausgestaltung bedingen, und das über kulturelle Grenzen hinweg.

So scheint die Abkehr vom klassischen Helden hin zur Darstellung realistisch erscheinender Protagonisten und Alltagsmenschen eine allgemeine Tendenz moderner literarischer Texte zu sein. Diese geht auf der konzeptionellen Ebene wiederum häufig mit einer vorwiegend individualisierten Darstellung einher, was eine Loslösung von rein typisierten Figuren bedeutet.

Eine weitere Gemeinsamkeit einer Vielzahl der besprochenen Werke ist darin zu sehen, dass neben den eigentlichen Figuren auch den Räumen, in denen sich diese bewegen, ein besonderes Gewicht bei der literarischen Inszenierung beigemessen wird. Sei es das Großraumbüro einer Steuerbehörde in den USA, die Fabrik zur Herstellung von Lunchboxen in Japan oder der leere Wassertank eines Flüchtlingstransports auf dem Weg nach Kuwait – die Moderne findet ihre Schauplätze häufig an ganz bestimmten Orten, die mit dem Schicksal und Leben ihrer Figuren aufs Engste verbunden sind. Es scheint daher lohnend, sich in Zukunft auch stärker mit dem Verhältnis von Figur und Raum auseinanderzusetzen.

Was die Zielsetzung des Symposiums in Bezug auf die Erarbeitung theoretischer und methodischer Zugänge zur Analyse literarischer Figuren betrifft, ist festzuhalten, dass diesbezüglich nur wenig Neues auszumachen war. Ein überwiegender Teil der Vortragenden bediente sich bei ihren Untersuchungen klassischer Konzepte. Auffällig war hierbei, dass nur einer der Beiträge zu außereuropäischen Texten explizit Kategorien der Beschreibung nutzte, die aus der literaturtheoretischen und literaturkritischen Praxis des entsprechenden Landes stammten. Hier besteht also noch Spielraum für die weitere Forschung.

Insgesamt empfanden viele der Teilnehmer*innen die Chance, über eine derartige Veranstaltung mit Literaturen anderer Länder in Kontakt zu kommen, als bereichernd für die eigene wissenschaftliche Arbeit. Besonders die Erkenntnis, dass bestimmte literarische Tendenzen und Figurentypen kulturübergreifend zu beobachten und keine singulären Phänomene sind, veränderte den Blick auf die eigene Forschung und führte zu dem Wunsch, fortan öfter in komparatistischer Weise zusammenzutreten. Auch für die Kölner Japanologie war die Veranstaltung ein wichtiger Impulsgeber, der die Weichen für die künftige Arbeit im Rahmen des DFG-Projektes zu den literarischen Figuren im Frühwerk Nagai Kafūs (1879–1959) stellte. Am Ende bleibt das Fazit, dass die Welt im Allgemeinen wohl doch nicht so unterschiedlich erzählt, wie man gemeinhin vermuten würde.

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