1/3 Fehlverhalten, Macht und Machtmissbrauch: Eine Bestandsaufnahme

„Information ist das zentrale Mittel, Schuld und Schamgefühle abzubauen, die Tabuisierung zu durchbrechen und dadurch das Mitteilungsverhalten […] zu erhöhen.“

Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW (2022)

Es ist vorlesungssaal-grell, noch ist die letzte Neonröhre ausgeschaltet; Papier raschelt, Tastaturen klicken, Jacken schürfen auf Holz, ein Kind brabbelt rege vor sich her. Viele tragen ihre FFP-2-Maske. Heute wollen wir Transparenz schaffen. Die meisten haben den Spiegel-Artikel zu Missbrauchsvorwürfen an unserer Universität gelesen, erinnern die Null-Toleranz-Demo. Der unausgesprochene Tenor: Wir brauchen einen offenen Diskurs und strukturelle Maßnahmen gegen Diskriminierung jedweder Art an unserer Universität. 

Jutta Stahl moderiert an, sie ist Prodekanin für Akademische Karriere und Chancengleichheit, Ombudsperson an der Humanwissenschaftlichen Fakultät, und Professorin für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik am Department Psychologie der Universität zu Köln. 

An der Universität verfügen unterschiedliche Gruppen über unterschiedliche Machtformen und -ausprägungen. Professor*innen etwa verfügen über Bewertungsmacht, Belohnungsmacht, Bestrafungsmacht, Informations- und Personalmacht. Mitarbeitende und Studierende haben vorwiegend Informationsmacht, etwa über eigene Daten und ihre Rechte im Hochschulkontext. 

Nehmen wir arbeitshalber folgende Beschreibung als Definition von Max Weber (Weber & Winckelmann, 2009) an: “Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.” 

Zwischen Gebrauch und Missbrauch von Macht bestehen dabei zahlreiche Graustufen. Einen Cutoff-Wert zu definieren, ab dem Machtmissbrauch einsetzt, der durch strukturelle Maßnahmen, etwa im Gleichstellungswesen, Ombuds- und Vertrauenswesen, oder das Justiziariat geprüft und sanktioniert wird, ist meist nicht einfach. 

“Manchmal sagt es nur das Bauchgefühl”, führt Stahl aus: Ein Professor umarmt seine Promovendin, nachdem ihr Artikel nach rigoroser, monatelanger Vorbereitung zur Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift akzeptiert wurde. Ein Professor umarmt alle seine Mitarbeitenden regelmäßig und scheint eine “generell touchy” Person zu sein. Eine Professorin bittet ihre studentische Hilfskraft, noch schnell am Wochenende ein paar Daten einzugeben. Eine Professorin bittet ihre Mitarbeitenden, ihre Wohnung aufzuräumen. Ein Professor drückt einer Mitarbeiterin einen Kuss auf die Wange. Ab wann sprechen wir von Fehlverhalten, von (Macht-)Missbrauch?

Oft ist es der Kontext, der die Angemessenheit und die eigene Empfindung beeinflusst. Doch daneben spielen individuelle Motivationen (die Persönlichkeit), allgemeine Überlastung im Apparat der Universität durch kompetitive Situationen, Workload und Zeit und Druck im Allgemeinen, oder zum Teil ungünstige Personalauswahlkriterien (mehr Publikationen erfahren stärkere Gewichtung als gute Führungs- und Lehrkompetenzen) eine ursächliche Rolle für Fehlverhalten und Machtmissbrauch. 

Macht, Machtmissbrauch und Fehlverhalten haben unterschiedliche Gesichter. Einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (Elson et al., 2021) mit 1339 Teilnehmenden zufolge haben 876 Personen wissenschaftliches oder menschliches Fehlverhalten erlebt oder beobachtet. Davon sind es im wissenschaftlichen Bereich (etwa Datenmanipulation oder Plagiate) 323 selbst erlebte und 555 beobachtete, auf menschlicher Ebene (im Sinne von “harassment”) 488 selbst erlebte und 672 beobachtete Fälle von Fehlverhalten. 203 Teilnehmende geben an, beide Arten kombiniert erlebt zu haben. 

In Summe über 70% der markierten Fälle gingen die Fehlverhalten von Betreuungs- oder Vorgesetzten Personen, älteren Kolleg*innen, oder Kolleg*innen auf gleicher Machtebene aus. 

Exemplarisch aus 40 Kategorien, so eine qualitative Analyse im Rahmen einer Masterarbeit (Angersbach, 2022), treten dabei u.a. Beleidigungen und Demütigungen auf (62x), gefolgt von sexueller Belästigung (21x), respektlos-unfreundlicher oder vulgärer Kommunikation (23x), Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft (27x), und auffallend oft Probleme mit der Autor*innenschaft (270x). Diese Daten lassen sich kaum in prozentuale Anteile überführen, zum einen, da von einer Teilnahmeverzerrung von Betroffenen auszugehen ist, zum weiteren, da es unabhängig von Verteilungen in jedem Einzelfall darum geht, Aufklärung und Lösung zu schaffen. 

Nach wie vor handelt es sich dabei um ein Tabuthema. Laut DGPs (Elson et al., 2020) wurden aus 250 Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade einmal 10% bei einer zuständigen Stelle gemeldet; bei Schikanen am Arbeitsplatz waren es 24% gemeldete aus 369 Fällen. 

#unboxingdiscrimination heißt eine Vielfalts-Initiative der Universität zu Köln, die Gesichter von Fehlverhalten und Diskriminierung “entpacken” und dafür sensibilisieren will: Sexismus, Klassismus, Rassismus, Elternschaft, körperliche Merkmale, psychische Merkmale, Homophobie, Transphobie, Alter, Religion, Macht, … Die Liste ist lang und tief verankert. 

Bereits jetzt, so Stahl, gebe es zahlreiche Anlaufstellen, um Diskriminierung an der Universität zu Köln sichtbar zu machen und entgegenzuwirken. Gleichstellungsbeauftragte, Vertrauensdozierende, (Autonome) Referate, Gremien zur Sicherung Akademischer Karrieren und Chancengerechtigkeit, Psychologische- wie Inklusionsberatung, oder, peer-to-peer, die Fachschaften und studentischen Vertretungen sie alle vereint in ihrem beratenden Auftrag: “Wir hören zu und reden mit Ihnen. Über Diskriminierungserfahrungen, Gewalterfahrungen, Machtmissbrauch. Und zwar vertraulich.” 

Mit wem und wie diese Gespräche stattfinden und an welchen Stellen die Universität das Thema platziert (und noch platzieren muss), um es als strukturelles Problem anzuerkennen, Schuld und Schamgefühle abzubauen, und mehr Vernetzung und Sichtbarkeit für eine klare Haltung dagegen zu zeigen, lest ihr in den folgenden zwei Beiträgen. 


Zur Person: Prof’in Dr. Jutta Stahl

Mehr dazu:
2/3: Gleichstellungsarbeit, Beratungs- & Beschwerdewege (Annelene Gäckle)  
3/3: Beratungspraxis bei grenzverletzendem Verhalten (mit Claudia Nikodem)

An wen kann ich mich wenden? Eine Übersicht von Beratungsangeboten bei Diskriminierung und psychischen Krisensituationen haben wir für euch zusammengestellt.

Eine Beitrags-Serie des © Fachschaftsrat Psychologie der Universität zu Köln, 2023. Inhalte/Folien: Prof.’in Dr. Jutta Stahl. Text: Heiko Westerburg.


Quellen

Angersbach (2022). Erfahrungen am Arbeitsplatz mit Schikanen in der wissenschaftlichen Psychologie [unveröffentlichte Masterarbeit].

Elson, M., Fiedler, S., Kirsch, P., & Stahl, J. (2021). Verstösse gegen die wissenschaftliche Integrität in der deutschen akademischen Psychologie. Ergebnisse einer Umfrage des Ombudsgremiums der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). Abgerufen 23. Januar 2023, von https://www.dgps.de/fileadmin/user_upload/PDF/Ombudsgremium/Bericht_des_DGPs-Ombudsgremiums_20210728.pdf 

Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW (2022): Sexualisierter Belästigung, Gewalt und Machtmissbrauch an Hochschulen entgegenwirken [Handreichung]. Abgerufen 23. Januar 2023, von https://www.netzwerk-fgf.nrw.de/fileadmin/media/media-fgf/download/netzwerk_fgf_studie_nr_37_f_web_220119_neu.pdf  

Stahl, J. (2022, 19. Januar). Informationsveranstaltung zum Ombuds- und Vertrauenswesen organisiert durch das Dekanat der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln [Vortragsfolien]. Universität zu Köln. Abgerufen 19. Januar 2023, von http://tinyurl.com/hf1901  

#unboxingdiscrimination. (o. J.). Abgerufen 23. Januar 2023, von https://vielfalt.uni-koeln.de/antidiskriminierung/unboxingdiscrimination

Universität zu Köln (2022, 12. Juli). Antidiskriminierungsrichtlinie der Universität zu Köln [Amtliche Mitteilungen 51/2022]. Abgerufen 19. Januar 2023, von https://am.uni-koeln.de/e35075/am_mitteilungen/@50/AM_2022-51_Antidiskriminierung_RiLi_2022_ger.pdf 

Weber, M., & Winckelmann, J. (2009). Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie (5., rev. Aufl., Studienausg., [Nachdr.]). Mohr Siebeck.


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