FIST Kolloquium WiSe 23/24
18:00, H 111, IBW-Gebäude, Humanwissenschaftliche Fakultät, Gronewaldstraße 2, 50931 Köln, WiSe 2023/24
In den letzten Jahren haben die Widersprüche, Spannungen und Kontroversen zwischen Postkolonialismus und Rassismuskritik auf der einen Seite und Antisemitismuskritik auf der anderen deutlich zugenommen: Seit 2021 ist sogar von einem Historikerstreit 2.0 die Rede: Ähnlich wie im Historikerstreit 1986/87 kreisen die Debatten der Gegenwart um die Frage nach der Präzedenzlosigkeit der Shoah und mit Jürgen Habermas ist sogar einer der Protagonisten derselbe. Doch während die revisionistischen Positionen der 1980er auf eine „Entlastung von (…) Verantwortung“ zielten, ginge es in der heutigen Debatte „um eine Verschiebung der Gewichte“, so Habermas. Infrage stehen dabei (Dis)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie die Vergleichbarkeit kolonialer Genozide mit der Shoah. Die Debatten der Gegenwart verhandeln zudem implizit wie explizit auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rassismus und Antisemitismus — nicht selten wird auch Israel als (post)koloniale Gesellschaft zum Gegenstand. Gerahmt werden die Kontroversen von dem Spannungsfeld der Historizität und des Erinnerns bzw. der Erinnerungskultur. Soll es heute gerade nicht um „Erinnerung als höchste Form des Vergessens“ (Eike Geisel) gehen, droht durch historische Verzerrungen genau dies zu geschehen.
Die Kontroversen werden über traditionelle Medien, social media sowie durch Positionierungen/Beiträge von Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Künstler:innen oder Politiker:innen öffentlich ausgetragen. Entsprechend stehen auch Bildungsinstitutionen vor vielfältigen Herausforderungen und müssen die Spannungen und Konflikte insbesondere im Rahmen der formalen oder nonformalen politischen oder historisch-politischen Bildung aufgreifen.
Im Rahmen des FiSt-Kolloquiums im WS 23/24 gehen wir diesen Spannungsfeldern nach, beleuchten sie aus einer interdisziplinären Perspektiven hinsichtlich verschiedener Fragestellungen.
8.11. Prof. Dr. Habbo Knoch (Universität zu Köln): Ein neues Paradigma? Die Erinnerung an den Holocaust und der „postcolonial turn“
Seit einigen Jahren wird in Politik, Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft intensiv über die koloniale Vergangenheit und ihren erinnerungskulturellen Ort in der Bundesrepublik diskutiert. Straßennamen, Denkmäler oder Artefakte aus kolonialen Kontexten lösen heftige Kontroversen aus. In transnationaler Perspektive verstärken bürgerschaftliche Proteste gegen die öffentliche Ehrung vermeintlicher „Kolonialhelden“, intellektuelle Plädoyers für eine Revision vorherrschender historischer Denkmuster und politische Verhandlungen um die Anerkennung von Restitutionsansprüchen einander wechselseitig. Im Rahmen dieses „postcolonial turn“ werden bestehende Paradigmen der Geschichtskultur – vor allem in der angloamerikanischen Welt und in vielen europäischen Ländern – mit Nachdruck hinterfragt. An die Stelle eurozentrisch und prowestlich dominierter Geschichtsbilder sollen alternative Zugänge und Deutungen treten, um bislang marginalisierten Positionen in einem globalen Rahmen Geltung zu verleihen. Mit Blick auf die Erinnerung an den Holocaust führt dies zu Konflikten, die zum Teil durch ein hohes Maß an Polemik und Empörung gekennzeichnet sind. Welche Herausforderungen sind damit verbunden? In welchem Verhältnis soll zukünftig die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen zur globalen Geschichte des Kolonialismus auf politischer, erinnerungskultureller und wissenschaftlicher Ebene stehen? Welche Konsequenzen lassen sich für die Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur von kolonialer Gewalt und Holocaust ziehen?
15.11. Prof. Dr. Michael Rothberg (UCLA): „Is Comparison Taboo?“ Reflections on Multidirectional Memory in Germany (digital)
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Kenncode: 420237
When Multidirectional Memory appeared in German translation in 2021, it found itself at the center of a dispute about Holocaust memory that had begun in 2020 with the controversy about Achille Mbembe and that would continue through the “Catechism debate” initiated by Dirk Moses. At the center of this debate cycle were three key topics: the relationship between the Holocaust and colonialism; the relationship between antisemitism and racism; and the relationship between Holocaust memory and conflict in Israel/Palestine. Each of these topics is controversial in Germany and each raises questions about the advantages and disadvantages of comparison. In this lecture, Michael Rothberg will reflect on the German reception of Multidirectional Memory and will draw on his book The Implicated Subject (2019) to offer an ethics of comparison in the face of political violence.
22.11. Prof. Dr. Frederek Musall (Universität Würzburg): Jenseits der Dichotomien? Perspektiven auf Israel als postkoloniale Gesellschaft
Zionismus und der Staat Israel werden in der öffentlichen Debatte häufig entweder als Staatsprojekt „weißer europäischer Siedler“ oder als anti-koloniale Bewegung gedeutet. Somit dominieren in den Diskursen rund um die Themen Zionismus und Israel häufig dichotome Betrachtungsweisen. Im Gegensatz zu diesen Dichotomien geht das Konzept des „Allozionismus“ (Johannes Becke) von der Annahme einer grundlegenden Andersartigkeit der jüdischen Nationalbewegung aus. Somit umfasst der Ansatz des „Allozionismus“ auch multidirektionale Narrative und Erinnerungskulturen und ist anschlussfähig für aktuelle Debatten rund um das Thema „multidirektionale Erinnerung“ (Michael Rothberg). Vom Konzept des „Allozionismus“ ausgehend, geht der Vortrag der Frage nach, ob nicht dieser Ansatz angemessener wäre, um Israel als komplexe, plurale, heterogene und vielschichtige Gesellschaft in den Blick zu nehmen und zu analysieren.
6.12. Prof’in Dr. Astrid Messerschmidt (Bergische Universität Wuppertal ): Erinnerungskonstellationen ohne Gleichsetzungen – Rassismus- und Antisemitismuskritik für die historisch-politische Bildung (digital)
Zoom-Zugang
Kenncode: 871983
Der Vortrag skizziert den Anspruch einer postnationalsozialistischen Geschichtsreflexion in der Auseinandersetzung mit postkolonialen Perspektiven. Anknüpfend an den Gedanken unabgeschlossener Geschichte bei Walter Benjamin geht es um die Verortung einer gesellschaftlichen Erinnerungspraxis zwischen Etablierung und Kritik. Notwendig sind dafür systematische Unterscheidungen von Rassismus und Antisemitismus bei gleichzeitiger Beachtung der Verbindungslinien zwischen beiden Ideologien des Fremdmachens. Was ergibt sich aus den Geschichtsverhältnissen der Gegenwart für die historisch-politische Bildung?
10.1. Marina Chernivsky (Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment / OFEK e.V.): Leerstellen, Bedarfe und Aktualisierungen der Antisemitismuskritik in Selbstverständnissen von Bildung, Forschung und Beratung
Antisemitismus manifestiert sich als Gewaltform in unterschiedlichen Sozialräumen und tritt verstärkt in institutionellen Kontexten in Erscheinung. Die Kontinuität antisemitischer Strukturen und die zunehmende Intensität antisemitischer Vorfälle verweisen auf die Notwendigkeit, den Umgang mit Antisemitismus zu professionalisieren und strukturell zu verankern. Der Vortrag mit anschließender Diskussion stellt auf der Basis von empirischen Studien zu Antisemitismus im Kontext Schule sowie Erfahrungen aus der antisemitismuskritischen Bildungs- und Beratungspraxis die zentralen Herausforderungen dar und zeigt praxisnahe Handlungsoptionen auf.
17.1. Prof’in Dr. Karin Scherschel und Dr. Floris Biskamp (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt): Rassismus und Antisemitismus erinnern. Zum Verhältnis von Erinnerung, Postkolonialismus und Antisemitismus
Seit einigen Jahren nimmt die Schärfe, mit der erinnerungspolitische Debatten in der deutschen Öffentlichkeit geführt werden, wieder zu. Im Zentrum der Kontroverse stehen Spannungen zwischen der von postkolonialer und rassismuskritischer Seite eingeforderten Erinnerung an den Kolonialismus einerseits und der seit den 1990ern in Deutschland etablierten, auf Nationalsozialismus, Antisemitismus und Holocaust ausgerichteten Erinnerungskultur andererseits. Der Vortrag kontrastiert in einem ersten Schritt verschiedene Verständnisse von Erinnerung, um in einem zweiten Schritt Spannungsfelder im Kontext aktueller Diskussionen um Antisemitismus, Kolonialismus und Rassismus zu rekonstruieren. Er basiert auf konzeptionellen Überlegungen des Forschungsprojektes EZRA, das die Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen im erinnerungspolitischen Diskurs in den Themenfeldern Nationalsozialismus, Kolonialismus und postnationalsozialistische Gewalt untersucht.
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Umgangsformen
Die Vortragsreihe entstand in einem anderen Kontext als heute. Auch wenn uns bewusst war, dass es immer wieder Situationen gibt, die die Spannungsverhältnisse aktualisieren, hätte keine*r von uns mit dem Terror des 07. Oktobers gerechnet.
Dennoch finden wir es weiterhin sinnvoll einen auf gemeinsame Lernerfahrungen
ausgerichteten Raum zu bieten, in dem die Spannungsverhältnisse zwischen
Antisemitismuskritik und Postkolonialismus diskutiert werden können.
Dabei ist es uns wichtig einen Bildungsraum zu schaffen, in dem Unsicherheiten und Fragen kommuniziert werden können und gemeinsam nachgedacht wird.
Dafür ist es hifreich wenn Nachfragen kurz gehalten werden und keine Zwiegespräche entstehen.
Zudem ist es uns wichtig, dass kein Antisemitismus reproduziert wird. Wir werden auf Anitsemitismus, Rassismus und andere Diskriminierungsformen hinweisen, wenn wir diese wahrnehmen und behalten uns vor Menschen des Raumes zu verweisen, wenn unsere Hinweise nicht respektiert werden.
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