Die geheimnisvolle Gestalt im Leuchtturm

Die beiden besten Freunde Anton und Mo sitzen spät abends mit ihren Enkeln Jannik und Piet zusammen beim Abendbrot. Während es in Cuxhaven bereits den ganzen Tag heftig gestürmt hatte, haben es sich die Vier drinnen gemütlich gemacht. Anton schmiert sich wie jeden Abend sein Marmeladenbrot. Als es draußen plötzlich fürchterlich donnert und ein Blitz den finsteren Himmel zerreißt, fällt ihm vor Schreck das Messer auf den Boden. Beim Aufheben des Messers schaut er aus dem Fenster und bemerkt etwas im dichten Nebel. ,,Hey Opa, alles okay bei dir? Was ist denn da draußen?“, fragt Piet. ,,Reich mir mal schnell mein Fernglas, ich sehe da etwas in der Ferne!“ Als Anton das Fernglas wieder absetzt, kann er seinen eigenen Augen nicht trauen. ,,Mo, der Leuchtturm! Er flackert wieder!“ Piet und Jannik schauen sich verdutzt an und fragen gleichzeitig: ,,Der Leuchtturm flackert wieder? Was hat das zu bedeuten?“

,,Ich glaube, es wird Zeit, euch eine Geschichte aus unserer Kindheit zu erzählen, dann wird euch einiges klar werden!“, sagt Mo.

Eines Nachmittags in den Sommerferien, als wir uns mal wieder bei Anton verabredet hatten und ich bei ihm übernachten wollte, war es ähnlich stürmisch wie heute Abend. Im Radio lief die Wettervorhersage für Neuwerk und Cuxhaven. Es wurde angekündigt, dass es eine stürmische Nacht werden sollte. Aus Antons Zimmer hatte man einen exzellenten Blick auf Neuwerk und beim Quartettspielen bemerkten wir, dass draußen etwas flackerte. Beim genaueren Hinsehen entdeckten wir, dass das Flackern vom Leuchtturm auf Neuwerk kam. Ich weiß noch genau, wie Anton sich sofort sein Fernglas schnappte, hindurchblickte und vor Schreck sein komplettes Kartendeck fallen ließ. Manches ändert sich wohl nie. Damals rief er: ,,Mo! Am Leuchtturm ist eine finstere Gestalt! Was geschieht da draußen?“ Ich griff zum Fernglas, um das mit meinen eigenen Augen zu sehen. Doch die finstere Gestalt war nicht mehr zu sehen. ,,Willst du mich veräppeln, Anton? Ich sehe da rein gar nichts!“ ,,Doch, na klar! Komm mit, ich beweis es dir. Wir leihen uns das Boot von meinem Opa Hinnerk und fahren damit rüber zum Leuchtturm von Neuwerk!“

Wir machten uns daraufhin sofort auf den Weg zu Opa Hinnerk, der ein begeisterter Fischer war und Anton schon so einiges über das Fischen und Bootfahren beigebracht hatte. Als wir ankamen und bereits ins kleine Fischerboot gestiegen waren, bemerkte Anton, dass der Schlüssel nicht wie gewohnt im Zündschloss steckte. ,,Vielleicht hat ihn Hinnerk im Bootshaus versteckt.“, rätselte ich. Wir schlichen uns über die Hintertür ins Bootshaus und fingen an nach dem Bootsschlüssel zu suchen. Dabei stieß ich aus Versehen mit dem Arm gegen Opa Hinnerks heiß geliebtes Buddelschiff, das krachend auf dem Boden in tausend Einzelteile zersprang. ,,Verdammt, ich Schussel! Das war vielleicht laut! Hoffentlich haben wir Hinnerk nicht aufgew-“ ,,WAS ZUM KLAUBAUTERMANN IST HIER DENN LOS?! WAS MACHT IHR BEIDEN MITTEN IN DER NACHT IN MEINEM BOOTSHAUS??? Erstarrt stammelte Anton: ,,Opa! Hast du uns vielleicht erschreckt! Wo hast du den verdammten Bootsschlüssel versteckt?“ ,,Euch beiden geht es wohl zu gut! Ihr beide habt mich erschreckt! Und wofür in Poseidons Namen braucht ihr jetzt mein Boot?“

Wir erzählten Hinnerk von der geheimnisvollen Gestalt und dass wir vorhatten, gemeinsam mit dem Boot dorthin zu fahren. Überraschenderweise war mein Opa nicht böse, sondern wollte uns begleiten. Er merkte an, dass wir uns lieber gut auf das Abenteuer vorbereiten und ausreichend Proviant und Ausrüstung einpacken sollten . Wir packten eine Tasche mit Seekarte, Taschenlampe, Proviant, Fernglas, Taschenmesser und Sextant.

Als wir am Leuchtturm ankamen erhellte ein Blitz die Nacht und umhüllte ihn mit einem gruseligen Schein. Wir zückten alle unsere Taschenlampen und begannen den langen Aufstieg über die knarzenden, rostigen Treppenstufen. Leider funktionierte nur eine der drei Taschenlampen, da Hinnerk diese wohl selten benutzte. Mit jeder Treppenstufe stieg auch die Spannung in uns und jeder Donnerklang ließ uns zusammenfahren. Als wir die letzte Treppenstufe erklommen hatten, begann auch die letzte Taschenlampe zu flackern und gab schließlich den Geist auf. Daher mussten wir uns ab diesem Zeitpunkt mit dem Licht der Blitze orientieren. Auf dem Außenbereich des Leuchtturms empfing uns der prasselnde Regen und wir schauten uns nach der geheimnisvollen Gestalt um. Anton entdeckte in einem der Lichtblitze ein gebücktes Etwas hinter einem Stromkasten: ,,Seht her!“ Als der nächste Blitz auf die Erde traf erleuchtete dieser die nun direkt vor uns stehende und schreiende Gestalt. Dieser Schrecken wurde nur durch dessen Aussehen verstärkt. Eine völlig durchnässte, leicht gebückte Person, mit angsterfülltem und faltigem Gesicht, die statt Händen Werkzeuge zu haben schien, schrie uns an: ,,WAS ZUM KLABAUTERMANN…“, Doch dann erkannten wir ihn: „Eckart?“ fragte Hinnerk zögernd. „Was machst du denn hier?“ Es war tatsächlich Eckart, der vor uns stand. Er war der beste Freund von Opa Hinnerk und bekannt für seine handwerklichen Fähigkeiten. „Kinder“, sagte Eckart, „ich bin hier, um den Leuchtturm zu reparieren.“

„Hat der Leuchtturm keinen Blitzableiter?“, fragte Anton, während sie gemeinsam ins Innere des Leuchtturms traten, um sich vor dem Regen zu schützen. Eckart seufzte und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Der Blitzableiter ist uralt und benötigt ein spezielles Bauteil, das den Strom richtig leitet. Ich habe es nicht gefunden. Ohne dieses Teil funktioniert der Blitzableiter nicht richtig, und der Leuchtturm wird weiter flackern.“ Opa Hinnerk trat vor und fragte besorgt: „Eckart, was genau fehlt dir? Vielleicht können wir dir helfen.“ Eckart deutete auf einen offenen Schaltkasten, aus dem Kabel und Drähte ragten. „Ein besonderer Leiter, der den Strom gleichmäßig verteilt. Die alten Modelle brauchen etwas, das den Strom lenkt und stabilisiert. Ich habe bereits alles ausprobiert, aber nichts passt.“

Da kam mir eine Idee und ich kramte in der Tasche, die wir beim Aufbruch gepackt hatten. „Moment mal“, sagte ich und zog den Sextanten heraus. „Könnte dieser Sextant funktionieren?“ Eckart runzelte die Stirn. „Ein Sextant? Was soll der hier helfen?“ Anton erklärte: „Der Sextant lenkt Lichtstrahlen und misst Winkel. Vielleicht kann er auch den Strom lenken.“ „Einen Versuch ist es wert. Gebt ihn mir.“

Gemeinsam befestigten sie den Sextanten vorsichtig in den Schaltkasten, wo er die Rolle des fehlenden Teils übernehmen sollte. Sie schlossen die Kabel an, und ein leichtes Summen erfüllte den Raum. Dann trat Eckart zurück und hielt den Atem an. Ein plötzlicher Blitz durchzuckte den Himmel, und der Leuchtturm begann zu leuchten – diesmal ohne das unheimliche Flackern. Das Licht war konstant und stark. Eckart lachte erleichtert auf. „Es funktioniert! Der Sextant leitet den Strom tatsächlich richtig!“

Anton, Mo, Opa Hinnerk und Eckart jubelten. Der Leuchtturm war repariert, und das gefährliche Flackern gehörte der Vergangenheit an. Während sie sich in dem kleinen Raum versammelten und sich trockneten, erzählte Eckart ihnen, wie er bereits im Kindesalter mit seinem Opa den Leuchtturm reparierte. Schon damals war der Leuchtturm ein wichtiger Orientierungspunkt für die Schiffe gewesen, und ein defektes Licht hätte katastrophale Folgen haben können. Opa Hinnerk legte Eckart eine Hand auf die Schulter. „Du hast großartige Arbeit geleistet, alter Freund. Wieder einmal.“

Als wir Vier – zwei Generationen und viele Jahre auseinander – in die stürmische Nacht hinaustraten, war das Licht des Leuchtturms ein beruhigender Anblick. Wir hatten das Abenteuer unseres Lebens erlebt und eine alte Geschichte zu neuem Leben erweckt. Der Leuchtturm von Neuwerk leuchtete wieder sicher und stark, dank eines alten Sextanten und der Zusammenarbeit von Freunden und Familie.

Am Abendbrottisch in Cuxhaven beendet Mo die Geschichte: „Und genau so haben wir damals den Leuchtturm gerettet.“ Piet und Jannik sitzen mit offenen Mündern da. „Wow, was für eine Geschichte, Opa Mo!“, rief Piet begeistert. „Das müssen wir auch erleben!“

„Dass wir so etwas in unseren alten Jahren nochmal erleben würden.“, murmelt Mo und steht auf. „Schnappt euch eure Regenjacken, Jungs. Ein neues Abenteuer wartet auf uns!“